Apokalyptisches Requiem mit ausgestopftem Wal

30.06.2012 - 15:50 UhrVor 12 Jahren aktualisiert
Tarr: "Ich dachte immer, ich müsste die Welt verändern."
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Tarr: "Ich dachte immer, ich müsste die Welt verändern."
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Im neuen Kommentar der Woche strandet ein Wanderzirkus in einem Dorf in der ungarischen Tiefebene und trifft dort auf einen ausgestopften Wal, einen geheimnisvollen Prinzen, aufgestaute Aggressionen, einen Postboten und einen Musiktheoretiker.

Willkommen bei unserer Rubrik Kommentar der Woche, in welcher wir eure geistig-textuellen Ergüsse, also eure Kommentare, feiern möchten. Die Voraussetzungen dafür können beinahe alle Kommentare (egal ob für Filme, Serien, Personen, News) erfüllen, ob nun schön, persönlich, kurz, lustig, bizarr, alt, nachdenklich, lang, originell, treffend, gehaltvoll, neu, dadaistisch, apfelgrün oder ihr habt uns einfach nur ausreichend mit Schwarzwälder Kirschtorte bestochen. Ihr könnt mich per Nachricht gerne gelegentlich auf einen Kommentar, der euch besonders gut gefallen hat bzw. euren absoluten Lieblingskommentar auf moviepilot, hinweisen. Wir können euch keine Versprechungen machen, dass wir den Vorschlag auch auswählen, aber inspirieren lassen wir uns gerne.

Der Kommentar der Woche

Heute jubeln wir Jenny von T zu, die in ihrem Kommentar zu Die werckmeisterschen Harmonien einfühlsam ihre Wahrnehmung des Films von Béla Tarr schildert:

Mit Filmen ist es ein wenig wie mit Sprachen: Manche klingen nur schön, andere sind für uns ein Schloss mit sieben Siegeln, aber nur eine ist unsere Muttersprache. Selbst der größte Filmjunkie wird einräumen, dass die Zahl derjenigen Filme, die er oder sie sich wieder und immer wieder mit wachsender Begeisterung anschauen kann, letztenendes stark begrenzt ist und vieles nur für den Augenblick mitreißt, weil einen der richtige Film in der richtigen Stimmung erwischt hat.

Wenn aber alle Filme Sprachen sind, sind Béla Tarrs Werke nicht nur einfach Abfolgen von Klängen und Lauten, sondern Musik. Tarr erzählt nicht bloß eine Geschichte, seine Filme sind vielmehr ein Gefühl.

Zwar finden sich auch in “Werckmeister harmóniák” längere Dialoge, aber die Essenz steckt beim Ungarn immer in der BildSPRACHE, die ja eigentlich Musik ist, aber jedenfalls derart intensiv und mitreißend, dass man während immerhin mehr als 2 Stunden wirklich alles um sich herum vergisst, und ich glaube, das ist eine Gabe, die man an keiner Filmschule dieser Welt erlernen kann.

Selbst alltägliche Momente, die Tarr einfängt, sind plötzlich von einem melancholischen Zauber. Sogar ein riesiger, ausgestopfter, stinkender Wal ist irgendwie lebendig, zumindest in den Augen der Hauptfigur János, der für mein Empfinden den letzten Atemzug warmer und wärmender Menschlichkeit in diesem Film verkörpert, während die Gemeinde um ihn herum lediglich das Bedrohliche im Fremden sieht, und so entsteht während der ersten und einzigen Begegnung János’ mit diesem Kadaver ein unsichtbares Band, dass sich ebenso wenig sehen wie in Worte fassen lässt.

Überhaupt versteht Tarr es, die Welt aus dem Blickwinkel seiner Protagonisten zu betrachten und gleichzeitig eine Grundstimmung zu erzeugen und zu halten: Wenn János auf dem Marktplatz die letzten Schritte in Richtung der großen Attraktion tätigt, dann klebt die Kamera an seinem Rücken, wandert geradezu im Kreis und fängt ebenso die teilnahmslosen, resignierten sowie frustrierten Gesichter der Menschen ein, an denen er vorbeigeht, und diese subtil-bedrohliche Spannung hält auch dann an, wenn kurz darauf Zirkusmusik ertönt. Und nicht nur das, Tarr schlägt allein dadurch (bzw. auch schon ganz zu Beginn des Films durch eine beeindruckende Darstellung der Sonnenfinsternis) sogar bereits Handlungsrichtungen ein, nimmt den Zuschauer für diesen unbemerkt an die Hand.

Ja, “Werckmeister harmóniák” ist düster, Tarr’s typische Endloseinstellungen dürften ohnehin nicht jedermanns Fall sein oder auf manchen sogar prätentiös wirken, und bei all meiner Begeisterung wäre es somit falsch zu behaupten, dass dieser Film ganz sicher jedem gefallen wird und muss – wer jedoch Schönheit in Melancholie erblicken kann, der findet hier nicht weniger als das Paradies, ein zu Hause und sein persönliches Esperanto.

Ich schreibe diese Worte freilich berauscht, aber just in diesem Moment gehören die werkmeister’schen Harmonien sicherlich zu dem filmisch Berührendsten und einfach Bestem, das ich jemals sehen – ach, was rede ich da, ERLEBEN – durfte. DANKE, Béla Tarr!

Den Kommentar findet ihr übrigens hier.

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