Es sieht so einfach aus: Kauf massenweise Ramsch zu niedrigen Preisen. Stell es mit Produkttiteln wie "Wundertherapiegerät" und zu Wucherpreisen ins Netz. Warte, bis das blinkende "Verkaufen"-Feld von einer roten "Ausverkauft"-Aufschrift ersetzt wird. Starte von vorne.
Kleiner Tipp: Besorg dir sicherheitshalber eine Waffe oder engagiere einen Yakuza-Assistenten, denn wie man im neuen Thriller Cloud anschaulich lernt, können negative Kundenrezensionen in Windeseile zu einem Home Invasion-Thriller eskalieren. Dahinter steckt der japanische Meisterregisseur Kiyoshi Kurosawa, der seinen neuen Thriller beim Filmfest in Venedig vorgestellt hat.
Kiyoshi Kurosawa hat den Internet-Horror perfektioniert
Der Verkäufer heißt Ryosuke (Masaki Suda), ein ruhiger Kerl, der nur vor Spannung vibriert, wenn er auf seinen Bildschirm starrt. In seiner kleinen, mit Kartons zugestellten Wohnung ist das der leuchtende Schrein. Ryosuke hat einen langweiligen Job und verdient sich als Wiederverkäufer etwas dazu. Je schneller die "Ausverkauft"-Felder erscheinen, desto schneller lässt er jedoch seine Bedenken bei der Auswahl der Produkte fahren. Gefälschte Handtaschen, Merchandise … Was er verkauft, ist egal, Hauptsache die Gewinnmarge stimmt. Den Rest übernimmt das Internet.
Wie viel Horror im World Wide Web stecken kann, hat Kiyoshi Kurosawa in seiner Karriere bereits ausgelotet. Am gruseligsten geschah das in seinem Meisterwerk Pulse, das von der Moviepilot-Redaktion in der Liste der besten Horror-Filme der 2000er auf einen verdienten ersten Platz gesetzt wurde. Auch in Pulse starren junge Menschen auf ihre Bildschirme, bis geisterhafte Erscheinungen zurückschauen und über das Fenster des Internets in Welt der Lebenden eindringen.
Dabei wird in dem Horrorfilm auf explizite Gewalt verzichtet. Pulse zieht seine Schreckensbilder und Atmosphäre aus alltäglichen Räumen und Orten. Das Internet wird als Rückzugsort inszeniert, das die Menschen voneinander – und sich selbst – isoliert, bis von ihnen nichts mehr übrig ist.
In Cloud brechen sich die Geister des Netzes ebenfalls Bahn. Hier schwappt die Enthemmung aus anonymen Online-Shops und Kommentarspalten ins reale Leben über. Eines Tages fährt Ryosuke auf dem Moped heim und entkommt gerade so einem Draht, der über seinen Heimweg gespannt wurde. Es scheint ein unglücklicher Zufall zu sein, doch ein Gefühl des Unbehagens liegt von nun an in der Luft. Als sich unangenehme Vorfälle häufen, mietet er ein abgelegenes Haus in den Wäldern. Den Online-Handel betreibt er weiter, und zwar umfangreicher denn je.
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Cloud ist ein Mix aus Home Invasion-Horror und Action-Film
In der ersten Hälfte von Cloud dominiert der Grusel. Dessen Level kann zwar nicht mit Pulse oder Cure mithalten, das wird aber durch die Beobachtung einer ziemlich zeitgemäßen Existenz aufgefangen. Ryosuke ist Täter und Opfer zugleich. Als Verkäufer nutzt er andere zugunsten der eigenen Gier aus, während sein Gewissen von Transaktion zu Transaktion weiter bröckelt. Gleichzeitig wird er als Produkt einer Konsumwelt vorgestellt, in der Arbeit keinen Sinn mehr schafft – nur eine Überweisung am Anfang des Monats. Die Leere wird mit dem nächsten blinkenden "Ausverkauft"-Schriftzug gefüllt. Genossen wird der wachsende Kontostand nämlich auch nicht, sondern direkt reinvestiert.
Unheimlicher als die maskierten Männer, die irgendwann vor Ryosukes Fenster erscheinen, ist nämlich nur das Verkaufs-Tool, auf das er stundenlang starrt. Es ist so einfach, so unpersönlich, so verführerisch und Kiyoshi Kurosawa beobachtet es mit einer Neugier, wie sie andere Regisseure für Dinosaurier, UFOs oder Kettensägen schwingende Hinterwäldler übrig haben.
Wenn dann aber die Maskierten im Wald erscheinen, bricht aus Cloud ein waschechter harter Action-Film hervor, wie man ihn von Kurosawa nicht unbedingt gewohnt ist. Dann wird geballert und Kugeln zischen durch Industrieruinen vergangener Arbeitstage. Die Stimmung der ersten Hälfte wird rigoros gebrochen. An ihre Stelle tritt eine Gewalteskalation, die man satirisch nennen könnte – wäre sie nicht so bitterernst.
Cloud hat noch keinen deutschen Starttermin. In Venedig läuft der Film außerhalb des Wettbewerbs.