Ich, Façade & die Zukunft der Videospiele

12.01.2016 - 18:00 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Façade
Procedural Arts
Façade
1
1
Videospiele kleiden sich seit Jahren in immer schickere Grafik, um eine möglichst glaubwürdige Welt zu schaffen. Einen anderen und weitaus faszinierenden Weg wies mir vor langer Zeit das Indie-Experiment Façade.

Vor etwas mehr als zehn Jahren sah ich die unendlichen Weiten des World Wide Web gerade mal durch einen Türspalt, da ich noch keinen eigenen Internetanschluss hatte. Vermutlich befürchteten meine Eltern, ich würde andernfalls in Fileshareing-Foren versinken, bis sie knietief in Abmahnungen stehen. Und vielleicht hatten sie damit gar nicht so unrecht. Daher musste ich vor allem auf den Arbeitsrechner meiner Mutter zurückgreifen, wenn ich wissen wollte, was sich in der Welt der Videospiele so tat — oder ich wühlte mich durch die Berge an Magazinen, für die ich Monat um Monat zum Zeitschriftenregal trottete. So landete eines Tages auch eine GameStar-Ausgabe in meinen Händen, auf deren DVD sich das unscheinbare Façade  versteckte und mir eine Zukunft zeigte, auf die ich noch heute sehnsüchtig warte.

Im Indie-Experiment von Procedural Arts schlüpfte ich ein Wochenende lang in die Rolle von Adam, Tim, Carol oder einer völlig anderen Person. Schon in seinen ersten Momenten empfing mich Façade mit einer der Besonderheiten. Ähnlich wie in Fallout 4  fischte ich aus einem großen Pool einen Namen für meine Figur, den sich das PC-Spiel merkte und mich konsequent damit ansprach. Eigentlich schlüpfte ich auch in gar keine Rolle, stattdessen spielte ich einfach mich selbst, zumindest sofern ich das wollte. Im Grunde gab es nur eine Einschränkung: Ich war der alte Freund von Trip und Grace, einem Pärchen, das mich nach langer Zeit mal wieder zu sich einlud.

Das Apartment der beiden bildete von nun an die Bühne für eine interaktive Geschichte, die ich Hand in Hand mit Façade schrieb. Und Schreiben ist hier tatsächlich wörtlich gemeint. Denn ich unterhielt mich mit meinen Gastgebern, indem ich meine Dialogzeilen wie den Befehl eines Text-Adventures in den Bildschirm tippte. Das Indie-Experiment versuchte wiederum, sich darauf einen Reim zu machen, meine Aussagen und Fragen in einen Handlungsbogen zu zimmern und mir hoffentlich stimmige Antworten zu liefern.

Damit traf mich Façade völlig unvorbereitet. Schließlich kannte ich bislang fast nur Spiele, die versuchten, ihren Charakteren abseits von Cutscences und Skriptsequenzen mit immer aufwändigerer Grafik Menschlichkeit zu schenken – nicht aber mit einer ausgefeilten Künstlichen Intelligenz. Gleichzeitig stellte der unkonventionelle Ansatz mein dürftiges Schulenglisch vor einige Probleme, weshalb mein aufmüpfiges Teenager-Ich zuerst entschied, einmal mehr seine Grenzen und die des Spiels auszuloten.

Also schwieg ich das Pärchen beispielsweise einfach nur an, bewegte mich nicht vom Fleck und wartete gespannt die teils absurden Reaktionen auf meine Rebellion gegen das Spielgeschehen ab. Letztlich überwog allerdings die Faszination und der Wunsch, mich ernsthaft mit Trip und Grace zu beschäftigen, sie im Gespräch kennen zu lernen und ihre Probleme, die die der Titel hindeutet, zu lösen.

Dabei jonglierte Façade mit vielen Mechaniken, ließ manche von ihnen auf den Boden fallen und machte die Immersion dadurch immer wieder kaputt. Doch das nehme ich dem Spiel auch heute noch nicht übel, weil ich das, was es versucht, wichtiger finde als das, was es letztlich daraus macht.

Auf ihrer Website  fassten die Macher den Status Quo der Spielebranche, der sie unter anderem zu Façade motivierte, einmal so zusammen:

Videospiele nutzen heutzutage zunehmend anspruchsvolle Grafik und Physik-Simulationen. Dennoch sind die Kernspielinhalte — das Bewegen, Erkunden, Schießen, Springen, Freischalten [von Inhalten] — seit Jahren dieselben.

Zukunft, ich warte immer noch auf dich.

Façade erschien im Juli 2005 für Windows-PC und Macintosh. Wenn ihr es selbst ausprobieren wollt, könnt ihr das Freeware-Spiel auch heute noch auf der Entwicklerwebsite  herunterladen.

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare

Aktuelle News