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Mir war übel: Der Macher eines der besten Sci-Fi-Filme der 2010er verstört mit Meisterwerk, das in unglaubliche Albtraumwelt hinabsteigt

20.05.2023 - 15:00 UhrVor 1 Jahr aktualisiert
The Zone of Interest
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The Zone of Interest
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Das erste Meisterwerk des Filmfestivals von Cannes 2023 heißt The Zone of Interest. Nach seiner Sci-Fi-Großtat Under the Skin verstört Jonathan Glazer die Filmwelt erneut. Sandra Hüller spielt die Hauptrolle.

Ich taumelte aus dem Kino, mit einem alles zermalmenden Gefühl der Übelkeit, einer zersetzenden Spannung von der Haarspitze durch die Eingeweide bis zum kleinen Zeh. Nie wieder Kino, dachte ich, und stellte mich Sekunden später in die Schlange für den nächsten Film beim Festival von Cannes. Am liebsten wäre ich nach Hause gegangen, nicht nach Hause in unsere südfranzösische Unterkunft auf Zeit, sondern geradewegs auf meine Couch in Berlin. Der Auslöser sind die 105 verstörenden, zermürbenden und aufrüttelnden Minuten von The Zone of Interest, dem neuen Film von Jonathan Glazer.

10 Jahre nach seiner Sci-Fi-Offenbarung Under the Skin kehrt Jonathan Glazer mit einem Holocaust-Film zurück

Der letzte Film des britischen Regisseurs liegt 10 Jahre zurück, das war der Science-Fiction-Horror-Trip Under the Skin mit Scarlett Johansson als mörderisches Wesen aus einer fremden Welt. Dieser Film enthielt eine Szene, die mir noch eine Dekade später Schauer über den Rücken laufen lässt. Aus der Ferne beobachten wir, wie ein Mann ins Wasser rennt, um seine Frau vor dem Ertrinken zu retten. Das unerbittliche Geräusch der Brandung legt sich über ihren erfolglosen Überlebenskampf. Weg sind sie, als wären sie nie dagewesen.

The Zone of Interest reiht Szenen wie diese im Minutentakt aneinander, obwohl der Film niemanden beim Sterben zeigt. Was die Kamera aufnimmt: ein Einfamilienhaus mit Garten, saftige Grashalme, sorgsam gepflegte Beete. Hier wird das Gelände von einem putzigen kleinen Holzzaun umgrenzt, da von einer mehrere Meter hohen grauen Betonmauer. Dahinter: die Dächer von Baracken, ein Wachturm, Rauchsäulen, die sich in den blauen Himmel bohren.

Es ist das Haus der Familie von Rudolf Höß (Christian Friedel), Kommandant im sogenannten Interessengebiet des KZ Auschwitz. Zwischen 1941 und 1944 lebten Höß, seine Ehefrau Hedwig (Sandra Hüller) und ihre fünf Kinder am Rand des Stammlagers Auschwitz I, 100 Meter von einem Krematorium entfernt. Jenseits ihres Traumhauses wurden tagtäglich Tausende Menschen ermordet.

Während Ehemann Rudolf die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten mit großem Eifer optimiert, erntet Hedwig die finanziellen Früchte des Massenmords. Die aus kleinen Verhältnissen stammende Deutsche hat sich ihr Eigenheim im überfallenen Polen gesichert, sie erhält Pelzmäntel der deportierten und vergasten Jüdinnen aus ganz Europa, ihr Garten wird von Häftlingen gepflegt, ihr Essen von Häftlingen zubereitet.

Warum The Zone of Interest eine dermaßen verstörende Filmerfahrung ist

Die Bilder in The Zone of Interest sind so wohlgeordnet wie Hedwigs Blumenbeete. Symmetrisch zurechtgerückt, meist auf Hüfthöhe gefilmt, folgt unser Blick dem Alltag der Familie. Das Publikum schaut sozusagen als versteckter Beobachter in der Ecke zu. Picknick mit den Kindern in einer Minute, ein Meeting mit den Herstellern neuer Krematorien-Technik in der anderen. Mit einem Schwenk oder Schnitt geht Freizeit über in Verbrechen. Das Banale und das Unvorstellbare speisen einander. Kein Einkommen ohne Mord.

Die Kälte der Bilder geht durch Mark und Bein, nur schwer erträglich wird The Zone of Interest durch das Zusammenspiel mit der Tonspur. Was da zu hören ist: Kindergelächter, Vogelgezwitscher, Befehle, Schüsse, Schreie und ein undefinierbares, maschinelles Surren. Sterben. Die Geräuschkulisse verbunden mit Hedwigs stolzem Blick auf ihren Garten – das wetzte mir über die Laufzeit von 105 Minuten die Nerven ab.

Was The Zone of Interest in meinen Augen (und Ohren) zum Meisterwerk macht, geht über die bloße Erfahrung hinaus. Es ist das Kunststück, den Film nahezu vollständig auf die Täter und Profiteure der NS-Mordmaschinerie zu fokussieren und nichtsdestotrotz auf konventionelle Psychogramme zu verzichten. Und es ist die Entscheidung, nach unzähligen furchtbaren und wenigen großartigen Filmen über den Holocaust eine eigene audiovisuelle Sprache für das Unbeschreibbare anzustreben.

Ein paar Bilder in The Zone of Interest rufen das Fotoalbum von Karl-Friedrich Höcker in Erinnerung, Adjutant in Auschwitz. Es zeigt die realen SS-Leute unbekümmert in die Kamera lachend, am Fluss oder im Sonnenstuhl, mit Akkordeon. Der Genozid wird außerhalb des Bildausschnitts betrieben – und doch bleibt er unübersehbar.

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