Minderwertigkeitskomplexe sind 6 Folgen lang und auf Netflix zu finden. So zumindest im Fall der Serie Schlafende Hunde, die ab heute im Stream verfügbar ist. Der Krimi-Thriller-Mix mit Max Riemelt als obdachlosem Ex-Kommissar wäre gerne so ikonisch wie Tarantino und so dreckig wie 4 Blocks, ist am Ende aber nur ein Tatort mit viel Farbkorrektur.
Netflix verlegt Mordserie für Schlafende Hunde von Tel Aviv nach Berlin
Worum geht es in Schlafende Hunde? Mike Atlas (Riemelt) hat genug. Der einstige Berliner Hauptkommissar ist nach einem schockierenden Mordfall völlig ausgebrannt, verlässt Frau und Kind und lebt fortan in einem dreckigen Wohnwagen am Rande der Stadt. Als sich der vermeintliche Mörder seines Falls im Gefängnis umbringt, rollt er die schreckliche Tat erneut auf. Und stößt dabei auf Erinnerungen, die er lange verdrängt hat.
Schlafende Hunde ist die deutsche Adaption der israelischen Serie The Exchange Principle von 2016. Dort spielt Lior Ashkenazi einen obdachlosen Gerichtsmediziner namens Atlas, den brutale Morde in Tel Aviv mit seiner Vergangenheit konfrontieren. Die Serie ist ein tolles Vorbild, das wird auch in der deutschen Umsetzung spürbar.
Denn wenn es der Netflix-Serie an einem nicht fehlt, sind es Ideen. Egal ob Obdachlosenmilieu, Queerness in arabischen Familienclans, Körperdysphorie bei Teenagern, Polizeibrutalität, Staatsdienst als Haifischbecken oder Männerkult: Schlafende Hunde hat eine Menge Potenzial, wirkt aber nie überfrachtet. Quantität ist nicht das Problem.
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Schlafende Hunde wirkt an 1000 Stellen völlig unglaubhaft
Die Adaption ist schlicht lieblos. Hölzerne Dialoge lassen die Schauspieler:innen wie distanzierte Karikaturen wirken, allen voran Melika Foroutan (Tribes of Europa) als faschistoid rigorose Staatsanwältin, die über ihre Mitarbeiterin (Luise von Finckh) Dinge sagt wie "Ihr fehlt die harte Hand. Ihre Mutter war aus Stahl" und eine Vollzeit-Herablassung an den Tag legt, wie sie nur in Drehbüchern existieren kann. Das verzerrte Resultat ist nicht Foroutans Schuld, sondern die Konsequenz einer wirren kreativen Vision der Produzenten.
Schlafende Hunde will ein dreckiger Krimi-Thriller sein, der das 4 Blocks-Milieu nutzt, um darin ein düsteres Psychodrama auszurollen. Die Macher der Netflix-Serie geben sich aber keine Mühe, aus dem guten Konstrukt der israelischen Vorlage etwas Eigenes zu machen. Figuren und Plot bleiben künstlich, unglaubhaft und ungeschliffen.
Mike Atlas gammelt seit 8 Monaten in einem Wohnwagen herum, Frau und Kind leiden sehr unter seiner Abwesenheit. Warum versuchen sie nicht, ihn nach Hause zu holen? Sie wissen von seinen Besuchen, warum halten sie ihn nicht auf? Warum redet niemand mal richtig auf ihn ein? Stattdessen warten Familie und Freunde nur hilflos deprimiert seit einem Dreivierteljahr darauf, dass er die Straße heruntergeschlurft kommt und sagen dann irgendetwas Dämliches wie "Du solltest dir wirklich professionelle Hilfe holen".
Die Netflix-Serie kann sich zwischen Tarantino und Tatort nicht entscheiden
Die Produzenten haben kein Gespür dafür, wie verzerrt die Welt ist, die sie da als Pappmaché-Berlin bauen. Jeder scheint Mike Atlas und seine Probleme zu kennen und lässt bei erster Gelegenheit Sätze fallen wie "Mike Atlas, vom 49er! Hat der nicht damals den Mordfall Herres aufgeklärt?" Jegliche Exposition wird haarklein vorgeplappert, man könnte sich die Haare ausreißen.
Themen wie das Körperbild von Atlas' Tochter (Tara Africah Corrigan) oder Homosexualität zwischen arabischen Männern in Clanfamilien kommen aus dem Nichts, werden 5 Minuten lang mit einem schwerfälligen Zeigefinger durchgepiekst und dann wieder in die Versenkung geschleudert.
Wer verzerrt, darf keine halben Sachen machen. Wenn Staatsanwälte wie SS-Sturmführer agieren, passt das nicht zu einer geerdeten Milieu-Analyse der deutschen Hauptstadt. Mysteriöse Obdachlosigkeit, Verschwörungstheorien und Amnesie sind ein bisschen viel für einen Mordfall, der genauso gut Teil einer durchschnittlichen Folge Notruf Hafenkante sein könnte.
Tarantino-Karikaturen oder Tatort-Biederkeit, zwischen diesen Polen entscheidet sich Schlafende Hunde nie. Für einen richtigen Tarantino-Abklatsch mögen Nazis oder ein 60er-Soundtrack fehlen, aber Abziehbilder wie der abgehalfterte Bulle oder der zwielichtige Detektiv sind ebenso vorhanden wie ein paar filmgeschichtliche Klischees. Kurz darauf haben unbeholfene Dialoge und Plot-Entwicklung dann schon wieder jeden Spaß daran torpediert.
Die tollen Momente in Schlafende Hunde sind leider umsonst
Das ist schade, weil die Netflix-Serie einige tolle Momente besitzt. Andreas Helgi Schmid (Aus der Kurve) ist als junger Ermittler eine echte Entdeckung und muss in Zukunft häufiger in großen Produktionen zu sehen sein. Carlo Ljubek liefert die einzige stets glaubhafte Figur der Serie ab. Auch Peri Baumeister (Skylines) als verzweifelte Ehefrau und Bernd Hölscher als schmieriger Schnüffler haben sehr sehenswerte Szenen.
Der Look der Netflix-Produktion ist dank satter Farben und einer abwechslungsreichen Inszenierung nicht uninteressant. Am Ende bricht der Serie aber ihr Minderwertigkeitskomplex das Genick. Der Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem erfolgreichen Original und den US-Vorbildern des Thriller-Genres, den sie mit ihrer Mutlosigkeit erst recht nicht heilen kann. Dieser Hund hätte vielleicht besser weitergeschlafen.
Grundlage des Serien-Checks waren die ersten zwei Folgen der Serie.
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