Einmal im Leben einen echten Oscar in der Hand halten – das ist ein Traum, den sicher viele Kinoliebhaber:innen nachvollziehen können. Da ich zwar viel über Filme schreibe, aber selbst keine drehe, standen die Chancen mir diesen Wunsch zu erfüllen bisher schlecht. Schließlich kenne ich auch keine Oscar-Preisträger:innen persönlich, deren Trophäe ich "nur mal kurz anfassen" dürfte. Vor Kurzem kam ich unverhofft dann aber doch in den Genuss, meine Finger um echtes Academy-Award-Gold zu legen ... nur, dass diese Erfahrung anders endete als erwartet.
Den Filmtraum einer Oscar-Begegnung hege ich schon lange
Seit ich 13 Jahre alt bin, schaue ich jedes Jahr die Oscar-Verleihung. Gerade wurden die Nominierungen 2025 verkündet. In wenigen Wochen funkelt der renommierte Preis der Academy of Motion Picture Arts and Sciences dann wieder schmal und golden vom Bildschirm. Mindestens ein:e Preisträger:in stellt auf der Bühne immer fest, wie überraschend viel die Statue wiegt. Passend zum Schwert, das die Oscar-Figur hält, repräsentiert der Gewinn dieses Preises einen Ritterschlag im Filmgeschäft.
Für mein privates Oscar-Tippspiel im Freundeskreis habe ich den Goldjungen schon mehrfach "nachgebaut", um ihn anschließend selbst zu verleihen. Ich weiß von Bildern also sehr genau, wie ein Academy Award aussieht. Auch wenn die selbst erschaffenen Imitationen natürlich nur als schwacher Abklatsch der unendlich fernen Preisstatue in Los Angeles daherkommen. Am nächsten kam ich meiner Oscar-Wunscherfüllung vor ein paar Jahren beim Urlaub in Hollywood, wo Souvenir-Läden kleine Plastik-Kopien des Preises an jeder Straßenecke feilboten – aber auch das war natürlich nicht dasselbe.
Meine nächste Gelegenheit erhielt ich Ende Oktober 2024, als ich für Moviepilot ins kalifornische Burbank (im Norden von Los Angeles) reisen durfte. Für Vaiana 2 schaute ich hinter die Kulissen der Disney Animation Studios. Bei der Führung durchs Gebäude zeigte man uns auch die Disney-Trophäen: Hinter einer Plexiglasscheibe im Keller trennte mich nur eine Handlänge von den Goldstatuen zu Die Eiskönigin, Encanto und Co.
Das war ungefähr so, als würde ich mir die Nase am Schaufenster eines geschlossenen Eissalons plattdrücken. Aber ich hatte sowieso nicht erwartet, dass man Gästen einfach so eine Oscar-Statue in die Hand drücken würde. Doch da hatte ich mich geirrt.
Da ist er: Der Oscar findet den Weg in meine Finger
Als mein Besuchstag bei Disney sich dem Ende neigte, hatte ich viel über die Entstehung eines modernen Animationsfilms gelernt. Abschließend führte man die kleine Gruppe Journalist:innen, zu der ich gehörte, noch über das weitläufige Studiogelände. Nach allerlei interessanten Anekdoten zeigte unser Guide Drew uns am Ende noch das Disney-Archiv. Inmitten der Bibliothek zauberte er plötzlich einen Samt-Sack hervor und holte daraus – ihr ahnt es schon – einen echten Oscar hervor.
Auf die Frage hin, wer gerne mal einen Academy Award halten würde, schoss meine Hand schneller nach oben als jemals zu Schulzeiten. Wie die Lemminge reihten wir uns für ein Foto mit der Statue auf. Unter strenger Aufsicht, damit keiner mit der mit echtem Gold überzogenen Statue davonlief oder sie gar fallen ließ ("Bitte immer mit beiden Händen halten!"), wurde mein Filmtraum wahr.
Mein erster Gedanke war: "Der Oscar ist tatsächlich so schwer, wie alle sagen!" Fast vier Kilo zogen an meinen Unterarmen und ich fragte mich unweigerlich, ob so manche:r Preisträger:in die Trophäe vielleicht auch zum Gewichtheben missbraucht. Glatt und kühl lag die goldene Oberfläche in meiner Hand. Nur an den Beinen war die Statue schmal genug, um sie mit der ganzen Faust zu umfassen. Außerdem hatte ich nicht erwartet, wie glänzend, fast magisch, das Gold das Licht einfing und reflektierte.
Viel zu schnell musste ich den Preis an den nächsten Fotowilligen weitergeben. Aber am Schluss erschummelte ich mir noch einen Nachschlag, weil ich als Erste in der Reihe nur Fotos von mir mit Oscar gemacht hatte und gern noch zusätzliche Nahaufnahmen machen wollte – was man mir gewährte. So konnte ich beseelt am Tagesende die lange Heimreise antreten.
Willkommen in der Weißen Wildnis, oder: Ist ein kontroverser Oscar weniger wert?
Meine persönliche Oscar-Wendung erlebte ich erst später, als ich nach dem 16-stündigen Rückweg ins Bett fiel und erst am Folgetag wieder genug Kraft hatte, um zu recherchieren, welchen Academy Award ich da eigentlich gehalten hatte.
In den Disney-Studios hatte ich mir den Dokumentarfilm vorn auf der Oscar-Plakette, White Wilderness, nur schnell im Vorbeigehen notiert. Daheim in Deutschland kam ich endlich dazu, das mir unbekannte Werk ausführlich nachzuschlagen – mit überraschendem Ergebnis. Denn offenbar hatte ich hier einen der berüchtigtsten Oscars der Disney-Geschichte gehalten.
Weiße Wildnis: Ein Disney-Oscar mit düsterer Geschichte
Die Naturdoku Weiße Wildnis von James Algar beleuchtete 1958 das Tierleben in der Arktis – samt Eisbären, Walrossen und Vielfraß. Später geriet der Film allerdings in Verruf – unter anderem durch die Verbreitung der (falschen) Vorstellung, dass Lemminge Massenselbstmord per Klippensprung begehen.
Wie unter anderem Hyperallergic aufschlüsselt, sollen viele Szenen der Doku damals gefälscht worden sein: Kameramann Bill Carrick erzählte später, dass die Filmcrew Kinder dafür bezahlte, Lemminge einzufangen, um sie anschließend zum Drehort in Alberta zu schaffen (wo die Tiere nicht heimisch sind). Auf Drehplatten orientierungslos gemacht, flohen die Lemminge in alle Richtungen und wurden anschließend in den Abgrund geworfen. Die Tötung wurde anschließend als natürlicher Suizid dargestellt.
Auch wenn überbevölkerte Lemming-Regionen laut Snopes gelegentlich Mitrationen hervorrufen und Tiere auf dieser Suche nach einem neuen Lebensraum durchaus ihr Leben lassen können, handelt es sich dabei um Unfälle und keine Selbstmord-Instinkte. Zudem halten Lemminge das Meer, wie in der Doku dargestellt, nicht für einen See, den sie im Zuge ihrer Wanderung überwinden wollen und deshalb ertrinken.
Der oscarprämierte Film Weiße Wildnis hatte nach diesen Enthüllungen zu seiner Entstehung wenig überraschend einen schlechten Ruf. Verantwortlich für das düstere Kapitel soll Kameramann James R. Simon gewesen sein, während Disney von der Tierquälerei weder gewusst noch sie in Auftrag gegeben haben will. Bei Disney+ sucht man die Doku nach dem Skandal bis heute vergeblich. In den Tiefen des Internets kann man sie natürlich trotzdem noch finden und anschauen – was ich tat, denn nachdem meine Finger das verschmutzte Oscar-Gold berührten hatten, war meine morbide Neugier unweigerlich geweckt.
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Mein anschließendes Filmfazit: Eigentlich wirkt Weiße Wildnis wie eine von vielen Disney-Tierdokumentationen. Aber mit dem Hintergrundwissen um Lemming-Morde und Eisbärbabys, die im Studio verschneite Hänge herunterfielen, hat das Erlebnis unweigerlich einen bitteren Beigeschmack. Was mich zu dem internen Konflikt zurückführte, wie ich nun mit meinem erfüllten Oscar-Wunsch umgehen sollte.
- Überblick: Hier könnt ihr die Oscar-Filme 2025 schauen
Düsteres Oscar-Erwachen – und jetzt?
Hätte ich meine Recherche lieber unterlassen und meinen Oscar-Kontakt ungetrübt genießen sollen? Das unliebsame Zusatzwissen klärte zumindest die Frage, warum ich den Academy Award als Besucherin einfach so hatte halten dürfen: Wenn ich eine Vielzahl an Oscars besäße, würde ich auch nur den entbehrlichsten in fremde Händen geben. Die Trophäe an sich ist in Gewicht und Aussehen natürlich die gleiche, egal, welcher Filmtitel an der Vorderseite prangt.
Mehrere Monate nach dem Erwachen aus meinem Oscar-Traum komme ich bei einer Feststellung heraus, die zumindest eine gewisse, augenzwinkernde Befriedigung in sich bringt: Viele vor mir haben einen Oscar in die Höhe gestemmt – aber wer kann schon von sich behaupten, mal einen berüchtigten Oscar gehalten zu haben?