WM vs. Filmfest München

09.07.2014 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
Emma Roberts in Palo Alto
Tribeca Film
Emma Roberts in Palo Alto
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Vom 27. Juni bis 5. Juli fand das 32. Filmfest München statt. Aber wen interessiert’s? Es ist WM. Judy Horney hat sich trotzdem bei schönstem Public-Viewing-Wetter mit muffligen Kritiker-Hobbits und lustigen Rentnerinnen ins dunkle Kino gesetzt.

Hier die deutschen und internationalen Spiele, äh Filme, des diesjährigen Filmfest München in der völlig subjektiven Einzelkritik.

USA: Kiss the Cook
Noch verkatert von der Filmfest-Eröffnungsfeier, auf der ich gar nicht war, bin ich in die Pressevorführung von Chef. Multitalent Jon Favreau erzählt die Geschichte von Carl Casper einem angesagten Chefkoch in L.A., der die Schnauze von Kaviar-Eiern und der ständigen Einmischung des Restaurantbesitzers Riva (Dustin Hoffman) voll hat, weshalb er mit wehender Kochschürze kündigt und dort hingeht, wo es das beste Essen gibt: auf die Straße. Mit einem aufgemöbelten Food-Truck cruist er durch das Land und beglückt die Menschen mit Sandwiches, die vor Cholesterin nur so triefen. Auf seiner Reise lernt er nicht nur seinen vernachlässigten Sohn, sondern auch die Vor- und Nachteile des WWWs besser kennen. Ein schöner Film, der von mir einen MICHELIN-Stern bekommt. Warnung an alle Veganer und Vegetarier: Die pornografisch gefilmte Zubereitung tierischer Produkte ist nichts für zartbesaitete Tofuletten.

Australien: Ukraine Is Not a Brothel
Die Filmemacherin Kitty Green kommt aus sunny Australien, ihre Familie stammt aus der grauen Ukraine. Grund genug für sie, eine Doku über die ukrainische Oben-ohne-Aktivistinnen von Femen zu machen. Das Auffällige an der Demonstrantinnen-Truppe: Alle Mitgliederinnen sind ziemlich attraktiv, ziemlich geschminkt und ziemlich idealgewichtig. Wer zu viele Gemütlichkeitsmuskeln um den Bauch hat, darf leider nicht mitmachen. Außerdem sehr bizarr: Die Hälfte der Damen genoss eine Ausbildung als Stripperin oder topless Bardame. Mir war neu, dass diese Branche als Denkschule für engagierte Feministinnen dient, die für den Untergang des Patriarchats kämpfen. Da muss man doch nur 1+1 zusammenzählen, um herauszufinden, dass hinter der ganzen Organisation nur ein Mann stecken kann. Das tut Kitty dann auch (Achtung: Spoiler Alert!) und stößt auf Viktor, den Vater des “neuen” Feminismus. Auf die Frage, ob er die Gruppe gegründet habe, um Frauen ins Bett zu kriegen, antwortet er herzergreifend ehrlich: “Das zu leugnen, wäre eine Lüge.” Eine echte Enthüllungsreportage mit Unterhaltungswert. Auch wenn das Thema gar nicht so lustig ist.

USA: Palo Alto
Im Festivalkatalog stand: “Ein wundervoll zart erzähltes Debüt über das Jung-Sein in Amerika.” Und ich dachte “Pubertät? Nee, da geh ich nicht wieder hin.” Aber wenn der Opa der Regisseurin Francis Ford Coppola und die Tante Sofia Coppola heißen und der Film auf dem Buch von James Franco basiert, der auch noch als sexuell fehlgeleiteter Sportlehrer mitspielt, dann wäre man ja so dumm wie ein hormongesteuerter Teenager, sich das nicht anzusehen. Hier und da fühlte ich mich an Tante Sofias The Bling Ring erinnert, aber nicht wegen Abkupferei, sondern mehr durch die Darstellung kalifornischer Eltern, die leider nur eine schickes Zuhause bereit stellen und den Rest des Tages mit ihrer eigenen, nicht abgeschlossene Pubertät beschäftigt sind. Guter Film. Den Namen Coppola hat Gia Coppola nicht nur qua Geburt verdient.

Deutschland: Bornholmer Straße
Warum ich in einer Nico-Hoffman-Gänsehaut-Produktion war, die am 9. November sowieso ins Fernsehen kommt? Weil eine gute Freundin von mir in der Bornholmer wohnt. Manchmal reicht das schon für meine Filmauswahl. Und ich muss sagen, ich hab mich bei so manchem Dialog wirklich amüsiert: “Haben wir jetzt einen Befehl, Harald?” “Nein, Burkhard.” “Und was machen wir jetzt, Harald?” “Woher soll ich das wissen, Burkhard?” Kantinenfrau: “Noch ein Käse-Brötchen?” Wortwechsel wie man sie schon aus Louis de Funès -Filmen oder der Olsenbande kennt und sich damals schon lachend über dem Wohnzimmerboden gerollt hat. Natürlich gibt es auch die volle Packung Pathos, z.B. wenn die Grenzsoldaten immer wieder von der alten Dame gefragt werden, ob sie jetzt endlich zu ihrer verlorenen Tochter in den Westen darf. Gänsehautentzündung.

USA: The Skeleton Twins
Falls die deutsche Mannschaft den WM-Pokal holt, soll sie ihn bitte direkt an den Regisseur von The Skeleton Twins, Craig Johnson, weitergeben. Ich hatte lange nicht mehr so viel Spaß, depressiven Menschen beim missglückten Selbstmord zuzugucken. Aber wer könnte einen Freitod auch besser verbocken als die Saturday-Night-Live-Comedians Kristen Wiig und Bill Hader? Mit der Tragikomödie um die beiden dysfunktionalen Geschwister hat Johnson mal wieder gezeigt, wie gut amerikanisches Independent-Kino ist. Wenn ich meine Schwester gegen einen so witzig zynischen, schwulen Bruder wie Milo eintauschen könnte, ich würde es fast tun. Und ich lehne mich mit dieser These jetzt mal weit aus dem Fenster eines Wolkenkratzers: Kein deutscher Filmemacher würde eine so pointierte und originelle Dramedy hinkriegen. Ist leider so. Schon beim Sundance Festival war der Film neben Boyhood ein Must-See. Zu Recht! Mein absolutes Filmfest-Highlight!

Spanien: Hotel Nueva Isla
Nachdem in Bornholmer Straße 88 Minuten fast komplett durchgesabbelt oder mit Musik zugekleistert waren, fühlten sich meine Sinnesorgane bei diesem Film regelrecht unterfordert. Filmemacherin Irene Gutiérrez Torres begleitet in ihrer Doku Jorge, den letzten Bewohner des verfallenen Luxus-Hotels Nueva Isla in Havanna. Viel zu sehen außer eines kaputten Hotels und eines spackeligen Opas, der im Schutt nach Schätzen wühlt, gibt es allerdings nicht. Und mit dem Reden hat es Jorge auch nicht so. Da muss man eben die Bilder auf sich wirken lassen, redete ich mir gut zu. Im selben Moment stand eine Reihe vor mir Doris Dörrie auf und verließ den Saal. Sie hatte nach 30 Minuten also keinen Bock mehr auf den kubanischen Stummfilm. Da bin ich natürlich auch gegangen. Danke Frau Dörrie, ich hätte mich sonst bis zum Ende durchgequält.

Schland: Lügen und andere Wahrheiten
Im Festivalkatalog stand “Eine kompromisslose Liebeskomödie mit einem entfesselt aufspielenden Starensemble und Dialogen, so alltäglich lässig wie pointiert.” Nach dem Film dachte ich: Respekt, die ziehen das Thema Lügen marketingmäßig voll durch. Nichts von dem Katalogtext hat gestimmt. Der Film hat kaum Pointen und ebenso wenig Lässigkeit. Aber eins hat er: Überlänge. Vanessa Jopp hat alle Lügenstränge so gebaut, dass sie am Ende zusammenlaufen und eskalieren. Aber so harmlos, dass man denkt, die Regisseurin wäre in einem Schloss bei einer guten Fee mit Einhörnern groß geworden. Wer so Drama inszeniert, ist noch nie in Neukölln gewesen.

Schland: Das Zimmermädchen Lynn
Verbuchen wir diesen Film einfach unter “Deutsches Arthouse-Kino” und reden nicht weiter drüber, okay? Obwohl, vielleicht sollte man doch noch erwähnen, dass die Hauptdarstellerin Vicky Krieps den Förderpreis “Neues Deutsches Kino” in der Kategorie “Lesben-SM-Spielchen” gewonnen hat.

Kroatien: Happily Ever After
In dieser kleinen Nabelschau besucht die Dokumentarfilmerin Tatjana Bozic, ähnlich wie in High Fidelity, ihre Ex-Lover. Aber nicht um sich zu entschuldigen, sondern um herauszufinden, warum ihre Beziehungen mit diversen Männern immer wieder scheiterten. Hätte sie mal gleich ihren Vater gefragt, der brachte nämlich am Ende ziemlich einfach auf den Punkt, was Tatjanas Problem war. Seine Erkenntnis werde ich natürlich nicht verraten, sonst geht ja keine männerfrustrierte Frau mehr in den Film, falls der hier überhaupt einen Verleih findet.

Der letzte Filmtitel war leider nicht Programm. Richtig glücklich bis ans Ende meiner Tage, bin ich nur aus drei Filmen gegangen: Chef, The Skeleton Twins und Palo Alto. Aber vielleicht bin ich auch nicht lange genug da gewesen, um noch mehr Gutes zu sehen. Mein Filmfest-WM-Fazit fällt so aus: Im Fußballstadion sind wir den Amis weiterhin überlegen. Im Kino sehen wir wie eine armselige Karnevalstruppe neben ihnen aus. Damit gebe ich ab zu Welke und Kahn ins brasilianische Rooftop-Studio.


Den Text hat Judy Horney verfasst.

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