Fargo - Staffel 3, Episode 6: Jeder sage, was ihn Wahrheit dünkt

26.05.2017 - 09:15 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Fargo - Staffel 3, Episode 6: Jeder sage, was ihn Wahrheit dünktFX/Netflix
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The Lord of No Mercy ist ein hervorragender Titel für die 6. Episode der 3. Staffel von Fargo, denn Erbarmen zeigen hier weder die einzelnen Figuren noch das Schicksal, das diese gleichermaßen freiwillig wie unfreiwillig verbindet.

Die Stimmung im Minnesota des Jahres 2010 ist eine trübe, zumindest ausgehend vom Prolog der 6. Episode der 3. Staffel von Fargo, namentlich The Lord of No Mercy. Streng fokussiert sich die Kamera in der Dunkelheit auf eine Tür mit Fenster und lässt ein unheimliches Morgengrauen erwarten. Einerseits bringt diese erste Einstellung ein überaus heimisches Gefühl zum Vorschein. Andererseits lässt sie im Off eine große, weite und ebenso grauenvolle Welt erwarten. Denn was der heruntergelassene Rolladen bloß erahnen lässt, kündigt sich auf der auditiven Ebene im Hintergrund bereits an: Waren eben noch die beruhigenden Rufe eines Uhus zu vernehmen, bahnen sich nun mit beiläufiger Selbstverständlichkeit die Sirenen einen Polizeiwagens in den Vordergrund, ehe sie wieder verschwinden, als wäre nichts gewesen. Offenbart die Kamera jedoch den weiter vorne im Flur sitzenden Ray (Ewan McGregor), dürfte klar sein, dass zuletzt etwas Gewaltiges passiert ist. Etwas, das unmöglich vergessen werden kann.

Nikki (Mary Elizabeth Winstead), die zuletzt noch ganz eigennützig mit Sy (Michael Stuhlbarg) eine geheime Abmachung treffen wollte, wurde von Yuri (Goran Bogdan) und Meemo (Andy Yu) auf einem abgelegenen, trostlosen Platz irgendwo im industriellen Nirgendwo zusammengeschlagen und -getreten. So zumindest die Vermutung, die alleine auf der Geräuschkulisse der letzten Episode beruht. An diesem Punkt gilt es allerdings schon Vorsicht zu wahren, denn wie uns Serienschöpfer Noah Hawley im bisherigen Verlauf der 3. Staffel eindrucksvoll bewiesen hat, muss nicht nur jede Seite der Wahrheit, sondern vor allem jedes Detail, das diese im Großen und Ganzen ausmacht, hinterfragt werden. Im Fall von Nikkis unbeschreiblicher Niederlage bekommen wir nun in einzelnen Flashbacks weitere Hinweise zur genaueren Interpretation des Geschehens offeriert. Es sollen jedoch keine zehn Minuten vergehen, bis uns Fargo erneut verunsichert.

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Kaum betritt V.A. Varga (David Thewlis) das Bild, breitet er sich wieder aus, der undankbare Nebel der Unsicherheit, was auf der einen Seite an der einschüchternden Präsenz des Antagonisten liegt, auf der anderen Seite aber noch viel mehr auf seine eloquent vorgetragenen Geschichten zurückgeführt werden kann, die kein anderes Ziel verfolgen, als einen vermeintlichen Status quo komplett aus seinen Angeln zu heben. Gleich drei Geschichten dieser Art hat er diese Woche für Sy und Emmit (Ewan McGregor) parat, die selbstverständlich exakt der Wahrheit entsprechen - oder zumindest einer maßgeschneiderten Version der Wahrheit, der auch die 3. Staffel von Fargo gar nicht so abgeneigt scheint. Zuerst geht es um den Zusammenbruch von Lehman Brothers im Jahr 2008. Flott bebildert und gekonnt umschrieben, besteht hier kein Zweifel, dass es sich um eine wahrhaftige Angelegenheit handelt, die im Zeitalter von Google und Co. binnen weniger Sekunden nachgeschlagen werden kann.

Danach wird es allerdings kniffliger: Verliert sich Varga im Rahmen seiner zweiten Geschichte in den überraschenden Ereignissen, die angeblich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten, offenbart sich die dritte Geschichte eindeutig als unglaubwürdig, obgleich er sie genauso routiniert vorträgt wie die zwei vorherigen. So sei die Mondlandung anno dazumal auf einer Soundstage in New Mexico gefakt worden und der große Schritt für die Menschheit war nur einen kleinen Schritt aus dem präparierten Set heraus entfernt. Drei Stufen sind es, die zwischen Wahrheit und Unwahrheit entscheiden, ebenso wie sich die einleitenden Informationen in den ersten Minuten einer jeden Episode der 3. Fargo-Staffel von einem unumstößlichen Fakt in pure Behauptung verwandeln. Dennoch lässt Noah Hawley immer wieder durchblicken, dass er in seiner Autorität als kreativer Kopf außerhalb des Erzählten einen Blick für das gesamte Gemälde hat. Vertrauen können wir ihm trotzdem nicht.

Namen wurden verändert und trotzdem soll aus Respekt vor den Toten der Rest der Geschichte genau so erzählt werden, wie er stattgefunden hat. "Let each man say what he deems truth, and let truth itself be commended unto God", zitiert Varga frei nach Lessing, und vermutlich müssen wir uns vorerst mit diesem Satz als weiteres Leitmotiv zufriedengeben. Es ist ein bisschen so wie mit Emmit, der sich mittlerweile damit abgefunden hat, dass er dem bösen Wolf nicht mehr entkommen kann. Seitdem das Finanzamt - in persona: Agent Dollard (Hamish Linklater) - seine Bücher prüfen will, erkennt er vielleicht sogar in Varga einen Ausweg aus der verzwickten Situation, in die er sich so ungeschickt selbst reingeritten hat. Wenngleich Emmit viel zu feige ist, es zuzugeben, weiß er genau, zu was Varga in der Lage ist, eine schnellstmögliche Lösung des Problems zutage zu fördern - und die Aussicht ist der beste Trost, den er in dieser bitteren Stunde noch hat.

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Endgültig hat sich Emmit aber noch nicht dem Parasiten ergeben. In Gegenwart von Gloria Burgle (Carrie Coon) und Winnie Lopez (Olivia Sandoval), die weiterhin unangenehme Fragen stellen, erweist er sich etwa alles andere als kooperativ, was Varga förmlich aus der Reserve lockt. Generell ist dieses Gespräch auf engem Raum eines der absoluten Highlights der Episode, denn hier erweist sich Noah Hawley in seiner Eigenschaft als Drehbuchautor selbst als der titelgebende Lord of No Mercy dieser Episode und gönnt seinen Figuren keine Abkürzungen, um der unbequemen Situation zu entkommen. Nein, hier müssen alle durch - man kann regelrecht hören, wie es in den Köpfen der einzelnen Gesprächsteilnehmer rattert, um sich einen Vorsprung gegenüber der jeweils anderen Partei aufzubauen. Die Eskalation findet vorerst also bloß im Inneren statt. Äußerlich bleibt seitens der Figuren aggressive Förmlichkeit und für uns der Genuss, diese zu verfolgen. "Are we leaving?" - "Yes you are."

Emmit nimmt aus dieser brenzligen Begegnung eine wichtige Lektion mit und will den Streit mit seinem Bruder endlich beenden. Obwohl sich dieser eigentlich auf dem Sprung befindet, um mit Nikki die Stadt zu verlassen, treibt es ihn in seine Wohnung zurück, wo es zum packenden Finale zwischen zwei Brüdern kommt, die abseits ihrer Sturheit und ihres Egos gar nicht mehr wissen, warum sie sich eigentlich auf Kriegsfuß befinden. Emmit will Ray mit versöhnlicher Geste die Briefmarke - sprich: die Wurzel allen Übels - übergeben. Was folgt, ist ein absurd tragisches Hin und Her, das schließlich in Scherben, Tränen und einer Blutfontäne endet. Gefördert durch die Parallelmontage, die das baldige Ableben von Nikki erwarten lässt, kulminieren die Emotionen, als Emmit erkennt, dass eine blöde Zankerei zwischen ihm und seinem Bruder zum jähen Abgang seines Gegenübers geführt hat. Jetzt ist er ohnmächtig, kann nicht mehr handeln. Emmit bricht nicht nur auf dem Boden zusammen, sondern begibt sich direkt - und dieses Mal endgültig - in Vargas Hände.

Zitate der Folge: "I'm so rarely seen, maybe I don't really exist."

Anmerkungen am Rande:

  • Gerne darf Varga mehr von Schillers Delikatessen in der Franz Josef Straße in Sarajevo erzählen. Gleiches gilt für seine Interpretation der Klaviersonate Nr. 23 vom guten alten Ludwig van.
  • Nicht nur fällt es Varga schwer, Gloria im direkten Gespräch zu entschlüsseln. Nein, auch auf Facebook und Google wird er nicht fündig. Wie schön so ein Leben ohne digitalen Fußabdruck sein muss.
  • Hervorragend ist in dieser Episode außerdem die Kamera, die in mehreren Szenen zuerst einem bestimmten Auto folgt, dann kurz in der Umgebung verweilt und schließlich ihr Interesse einem Verfolger widmet. Schon in der 2. Staffel hatte Fargo absolut graziöse Kamerafahrten und -einstellungen zu bieten, wenn es um die Inszenierung von Autos in Bewegung ging.
  • TIL (1): "The shallow end of the pool is where the turds float."
  • TIL (2): "A shark in a suit is still a shark."
  • TIL (3): "Things of consequence rarely happen by accident."
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