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Shame - Kritik

15.03.2016 - 20:45 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Prokino (Fox)
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Steve McQueen gelingt mit »Shame« eine intensive Charakterstudie eines Sexsüchtigen, zugleich erzählt er von einer Gesellschaft der Einsamen und Bindungsunfähigen. Nach »Hunger« besetzte der Brite erneut Michael Fassbender in der Hauptrolle.

Ein Mann liegt im Bett und blickt lethargisch an die Decke. In der U-Bahn beobachtet er eine junge Frau. Er wacht neben einer anderen Frau auf, läuft nackt durch die Wohnung und hört seinen Anrufbeantworter ab. Die Frau in der U-Bahn lächelt ihn an. Wieder in seiner Wohnung, dieses Mal mit einer Prostituierten, die er bezahlt und dann in sein Schlafzimmer führt. Nächster Morgen, er geht erneut zum Anrufbeantworter, dann pinkelt er und masturbiert anschließend unter der Dusche.

Es sind kühle und repetitive Bilder, mit denen Steve McQueen eindrucksvoll und sehr treffend »Shame« eröffnet. Denn es geht um den sexsüchtigen Brandon (Michael Fassbender). Er ist ein Geschäftsmann in den besten Jahren, kultiviert und gutaussehend. Niemand scheint von der Krankheit zu wissen, die seinen Alltag bestimmt. Er stellt verheirateten Frauen nach, immer wieder schaut er Pornos, treibt sich in Sexchats herum und masturbiert, auf der Arbeit auch auf der Toilette. Gelegentlich trifft er sich mit Prostituierten. In dieses triste Leben platzt Brandons Schwester Sissy (Carey Mulligan), eine psychisch angeschlagene Jazzsängerin. Anders als ihr emotional kastrierter Bruder sucht sie krankhaft nach Liebe und Geborgenheit. Etwa bei einem verheirateten Arbeitskollegen von Brandon, der sie ausnutzt und dann wieder fallen lässt.

Oberflächlich ist »Shame« die Charakterstudie eines Sexsüchtigen. Indem McQueen den wiederholten Gang zum Anrufbeantworter auf Höhe des entblößten Geschlechts filmt, thematisiert er bereits in den ersten Minuten visuell jenes Organ, das dessen Alltag beherrscht. Gleich einer Zwangsneurose sucht Brandon nach sexueller Befriedigung, von Liebe keine Spur. Er grenzt sich immer weiter aus und vereinsamt zusehends. Wie ein Drogenkranker versucht er einmal sich aller Lustgegenstände zu entledigen, schmeißt Pornohefte, -Filme und sogar seinen Laptop in den Müll. Er ist ein Getriebener, dem Michael Fassbender die Aura krankhafter Obsession verleiht. Zugleich bleibt er aufgrund des nüchternen Spiels des deutsch-Iren über die gesamte Filmdauer schwer greifbar. Steve McQueen verzichtet auf eine eindimensionale Moral und jedwede Verurteilung und zeigt Brandons Treiben mit respektvoller Distanz. Dessen zahlreiche Eskapaden sind denn auch keineswegs rein mechanische Akte, sondern trotz der Gefühlsarmut sinnlich-erotisch.

Carey Mulligan als einsame Sissy

»Shame« geht allerdings weit über das individuelle Schicksal seines Protagonisten hinaus und erzählt anhand seiner Pathologie von einer Gesellschaft voller Bindungsunfähiger. Niemand in dem kalt gezeichneten Großstadtkosmos lebt in einer intakten Beziehung, Liebe scheint in »Shame« nicht zu existieren. Brandons Arbeitskollege betrügt seine Frau, die Menschen, die er in der Stadt und der U-Bahn beobachtet, blicken meist traurig in einsame, nicht genauer definierte Weiten. Nähe scheint es nur in Verbindung mit Sex zu geben. In einer erstaunlichen Szene beobachtet Brandon ein anderes Paar beim Akt. Die Beiden treiben es im Stehen direkt hinter dem sterilen Fenster im mittleren Stockwerk eines Hochhauses, ein Sinnbild der Entfremdung, so in Mitten der anderen dunklen Fensterquader hinter Glas. Das große Opfer dieser gefühlsverrohten Gesellschaft ist Sissy. Sie zerbricht buchstäblich an ihrer Einsamkeit und sucht zwanghaft nach Geborgenheit und Nähe. Es ist ein Wanken zwischen kindlicher Unschuld und verzweifelter Laszivität, mit der Carey Mulligan ihre Sissy anlegt.

In Zeiten von Tinder und Co. erhält »Shame« eine dystopische Note. Schließlich fördern die Datingapps bis zu einem gewissen Grad ein oberflächliches Denken und den Hang zur schnellen Nummer: Mit likes und dislikes wird über durchgestylte Profilbilder gerichtet und Matches entscheiden, wer als nächstes das kurzweilige Objekt der Begierde sein soll. Das klingt jetzt drastisch und ist sicherlich etwas überspitzt dargestellt. So ganz wegreden lassen sich Entwicklungen solcher Art aber nicht. Jedenfalls entlässt auch »Shame« den Zuschauer nicht mit einem Happyend: Sogar die engelsgleiche Schönheit, der Brandon zu Beginn in der U-Bahn nachläuft, hat am Ende keinen Ehering mehr am Finger...


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