Wie schamlose Armutspornos das Publikum erobern

26.12.2012 - 08:50 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Beasts of the Southern Wild
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Beasts of the Southern Wild
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In Fäkalien badende Kinder aus stinkenden Sümpfen erwärmen reihenweise die Zuschauerherzen. Mr. Vincent Vega über Armutspornographie im Kino von Slumdog Milllionär bis hin zu Beasts of the Southern Wild.

Riesige plüschige Monsterauerochsen wie in Beasts of the Southern Wild gibt es in Wahrheit keine, der Film nutzt sie deshalb von Beginn an offensiv metaphorisch. Riesig und plüschig sind indes die Absichten: Mit der herzerwärmenden Geschichte eines sechsjährigen schwarzen Mädchens, das in den Sümpfen Louisianas umgeben von Müll, Schlamm und der dreckigen Luft nahe gelegener Raffinerien aufwächst, gelang der US-amerikanischen Independent-Produktion ein Kritiker- und Publikumserfolg, wie er im Kinojahr 2012 fast seinesgleichen sucht.

Als eine Art Echo der durch Hurrikan Katrina schwer geschundenen Südstaatenseele erzählt Beasts of the Southern Wild auf märchenhafte Art vom abgeschiedenen Leben in Armut, von der zerstörerischen Kraft der Natur und dem starken Willen seiner kleinen Heldin Hushpuppy, die allen Widerständen zum Trotz ihrem Leben und ihrer Welt (die sie Badewanne nennt) etwas Magisches abgewinnen kann. Seit vergangenem Donnerstag ist der Film auch in den deutschen Kinos zu sehen, nachdem er auf dem Fantasy Filmfest bereits den Fresh-Blood-Award der Zuschauer gewann.

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Armutsbilder zum Wohlfühlen

Mit der Art, wie Beasts of the Southern Wild selbst größten Missständen eine Aura der Poesie verleiht, ist es der vielleicht rigoroseste Armutsporno der vergangenen Jahre. In einem nach allen Regeln der Manipulationskunst gestrickten Anbiederungsformalismus aus kindlicher Hauptfigur, vereinnahmendem Voice-Over und sinnlichen Musikklängen geht der Film einer hanebüchenen Verniedlichungsstrategie des dargestellten Elends nach.

Folglich mutet der im Kern tief brutale Leidensweg seiner Hushpuppy (was für ein entzückender Name) wie eine unbeschwerliche Abenteuerreise an - und wie ulkig betörende Lebensausschnitte wirken ihre Erlebnisse. Sie kocht Essen mit dem Bunsenbrenner, bekommt vom todkranken Vater Alkohol verabreicht und spricht mit Reinkarnationen ihrer verstorbenen Mutter, bevor sie schließlich ein Kollektiv aus Kindern und Erwachsenen anführt, das auf ein majestätisch-idiotisches Schlussbild zusteuert.

Indem er schlimmstes Leid als fantasievolle Kindergeschichte aufbereitet, leistet Beasts of the Southern Wild seinen zweifelhaften Beitrag zu einem sozialpornographischen Erfolgskino der jüngeren Vergangenheit, das immer vehementer mit realen Armutsbildern zum Wohlfühlen verleiten will. Seit dem oscargekrönten Elendstourismus eines Slumdog Millionär scheinen auch die letzten Fünkchen Sensibilität, Aufrichtigkeit und Problematisierungswillen in der Darstellung von Armut im Kino erloschen.

Slumdog Millionär tapezierte seine aufregend gefilmten Bilder von indischen Kindern, die in alten Lumpen über Dächer springen, durch schmuddelige Gassen flitzen oder auch mal vergnügt in Fäkalien baden, mit einem musikalischen Gemisch aus folkloristischem Elektroclash und Hip Hop in schnittig-schöner Clipästhetik. Selbst das Wüten durch Abfall und Mist setzte Danny Boyle als lustiges Kinderspiel in Szene, dessen Stilisierungen er geradewegs aus der Mutter des modernen Armutspornos, City of God, importierte. Diesem Slumtourismus sind alle eventuellen Nebenwirkungen, ist jeder Beigeschmack ausgetrieben.

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Elend als kuschelige Unterhaltung des westlichen Publikums

Schlimmer noch: Diese Filme, und da ist Beasts of the Southern Wild keineswegs eine Ausnahme, setzen auf einen vermeintlich exotischen Touch, spielen mit dem angeblichen Reiz des Fremden und der Attraktivität unwirklicher Armut. Das westliche Publikum, für welches sie überwiegend konzipiert sind, scheint den formschönen Ästhetikkonzepten gegenüber entsprechend aufgeschlossen. Der diesjährige Erfolg von Ziemlich beste Freunde ist auch auf eine gut meinende Disziplinierung der schwarzen Hauptfigur zurückzuführen, die aus der Armut befreit und direkt in ein weißes bürgerliches Wertesystem eingegliedert wird.

Filme wie Beasts of the Southern Wild, Slumdog Millionär oder City of God verfahren mit ihren Elendsbildern letztlich ähnlich. Sie haben eine Vorstellung von Unterhaltung, die unerträgliche Armutim Sinne des Vergnügens aufbereitet und konsumierbar, also erträglich macht.

Nicht selten muss deshalb das soziale Leid in diesen Filmen fantasievoll umgedeutet oder gar poetisch überhöht werden (Beasts of the Southern Wild wird geradezu bizarr wie ein Märchen vermarktet), mythisiert und in die Mechanismen des Wohlfühlkinos eingearbeitet werden. Besonders perfide ist, dass sie ihren (im doppelten Sinne) armen Figuren ein fadenscheiniges Selbstbewusstsein einimpfen und die Um-, Miss- oder allgemein schweren Zustände auf kuriose Art preisen lassen. So lange zumindest, wie das Elend mit ausreichend Magie und quirligen Hushpuppys in weiche Kinositze transportiert wird.

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