Auf keinen Fall im Kino verpassen: Der mitreißendste Film des Jahres ist ein 139-minütiger Rausch, den ihr nie vergessen werdet

15.11.2024 - 14:02 UhrVor 4 Monaten aktualisiert
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Der mitreißendste Film des Jahres ist kein großer Action-Blockbuster, sondern ein raues Update des RomCom-Klassikers Pretty Woman, das bis zur letzten Sekunde fesselt.

3000 Dollar für eine Woche als Freundin: Pretty Woman stützt sich auf eine erschreckend kühle Prämisse. Ausgerechnet eine finanzielle Transaktion, also ein Geschäft, legt den Grundstein des RomCom-Klassikers mit Julia Roberts und Richard Gere, ehe echte Gefühle ihren Weg in den Film finden. Die gesamte Überhöhung des Hollywood-Kinos der 1990er Jahre war notwendig, damit diese Liebesgeschichte funktioniert.

Wie sähe diese Liebesgeschichte heute aus? Genau diese Frage stellt sich Anora, der neue Film von Sean Baker. Nachdem der US-amerikanische Regisseur und Drehbuchautor die Träume von Disney World (Florida Project) und Hollywood (Red Rocket) am Kliff der grausamen Realität zerschellen ließ, erzählt er eine düstere Cinderella-Geschichte, die sich 139 Minuten lang dem Charme von Pretty Woman verwehrt.

Denn in Bakers Amerika gibt es nur Geschäfte und keine Liebe. Oder etwa doch?

Jetzt im Kino: Sean Bakers Anora ist die rastloseste New York-Odyssee seit Der schwarze Diamant

Anora beginnt im Neonlicht eines New Yorker Stripclubs. Nachts verdient sich Ani (Mikey Madison) hier ihr Geld. Tagsüber schläft sie. Dazwischen eine Raucherpause in der Kälte. Ein Kreislauf ohne Perspektive. Erst, als sie auf den jungen Wanja (Mark Eydelshteyn), den Sohn russischer Oligarchen trifft, offenbart sich ihr eine Ausbruchsmöglichkeit: Wanya bietet ihr 15.000 Dollar an, damit Ani eine Woche mit ihm verbringt.

Hier könnt ihr den Trailer zu Anora schauen:

Anora - Trailer (Deutsch) HD
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Im Partyrausch heiraten die beiden überstürzt in Las Vegas. Ani sieht ein Leben im Luxus, Wanya die perfekte Chance für die Greencard, um sich von seinen Eltern unabhängig zu machen. Doch kaum erfahren diese von der Eheschließung, schicken sie den Priester und Wanyas Paten Toros (Karren Karagulian) mit seinen Handlangern Garnick (Vache Tovmasyan) und Igor (Yura Borisov) los, um das Problem zu lösen.

Und dieses Problemlösen inszeniert Sean Baker als rastlose Odyssee. Anora führt uns von einem kalten Ort zum nächsten. Sei es die unfreundliche Villa der Oligarchenfamilie oder der eisige Strand von Brighton Beach: Nirgends möchte man verweilen. In dem Film pulsiert eine Hektik, wie sie seit dem ebenfalls in New York angesiedelten Der schwarze Diamant mit Adam Sandler nicht mehr in einem Film zu erleben war.

Witzig und aufwühlend zugleich: Mit Anora hat Sean Baker ein Epos mehrdeutiger Zwischentöne gedreht

Anora ist ein Stresstest, der bis zur letzten Sekunde alles abverlangt, aber vielmehr noch ein brillanter Spagat zwischen Genres, die anfangs überhaupt nicht zusammenpassen. Ist bei diesem Überlebenskampf überhaupt Platz für eine naive Liebesgeschichte? Können Slapstick-Einlagen einfach mit einem Home-Invasion-Thriller kombiniert werden, der drei Männer in einer übergriffigen Situation gegen eine junge Frau zeigt?

Baker balanciert oft auf einem sehr schmalen Grat, aber genau das macht seinen Film so aufregend. Jede Szene ist mit ambivalenten Untertönen aufgeladen und fordert uns auf, verschiedene Perspektiven einzunehmen, um herauszufinden, wer hier wen mit welcher Motivation benutzt. Denn jeder zentrale Charakter ist facettenreich geschrieben und nuanciert gespielt, sodass Vorurteile nicht selten entkräftet werden.

In den fast zweieinhalb Stunden von Anora passiert einiges: Menschen schreien, treten und beleidigen sich. Sie beißen, kratzen und weinen. Manche flüchten sogar aus dem Film und hinterlassen damit eine große Ungewissheit, was wirklich Sache ist. Vor allem dann, wenn der Film im Hinblick auf Anis und Wanyas Ehe das Argument der Liebe fragend in den Raum stellt. Ist diese wirklich nur ein Vertrag oder etwa doch mehr?

In Anora ist alles ein Geschäft, bis ein echtes Gefühl die Figuren komplett aus der Bahn wirft

Nach Florida Project und Red Rocket dürfte es wenig überraschen, dass Baker einen weiteren Film gedreht hat, der den amerikanischen Traum von einer hässlichen Seite zeigt und in dem jede Figur damit beschäftigt ist, selbst einen Schritt weiterzukommen. Alles ist eine Transaktion in einer Welt mit klaren Machtverhältnissen. Wer wie Ani unerschrocken die Hierarchien infrage stellt, sorgt für Chaos – und Widersprüche.

Eine käufliche Rebellin stürmt als Protagonistin durch den Film. Abgeklärt und trotzdem orientierungslos. Die groben, unbeholfenen Handlanger entwickeln ein Gewissen, während die vermeintlich unschuldige Jugend, die von Wanya ausgeht, als verantwortungsloser Leichtsinn entlarvt wird. Ständig kommen sich die Figuren in die Quere, stoßen sich ab. Und Baker packt sie immer wieder auf engstem Raum zusammen.

Am Ende spielen sie alle nach denselben Regeln: Den Regeln des Geschäfts, wodurch Anora das kühle Element, das bei Pretty Woman immer weiter in den Hintergrund gerät, bis zur Unerträglichkeit aufdreht. Jede Figur testet Grenzen oder Befugnisse aus und schaut, wie weit sie damit kommt. An diesem Punkt wird es tragisch: Obwohl eigentlich keine echten Tränen fließen, existiert eine aufrichtige Ausbruchsfantasie.

Nach Disney World, nach Hollywood oder zumindest raus aus dem Stripclub, in dem wir Anora zu Beginn des Films kennenlernen. Bei Baker sind Träume immer in Reichweite, bis sie in herzzerreißenden, bitteren Bildern zerplatzen. Dennoch schiebt er dieses Mal einen Gedanken hinterher, der Zittern lässt: Was ist, wenn es auf dieser Reise an Behauptungen und Abmachungen tatsächlich ein echtes Gefühl gab? Ungeheuerlich.

Anora läuft seit dem 31. Oktober 2024 in den deutschen Kinos.

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