Seit 2019 mordet Björn Diemel achtsam im Buchregal. Nun kommt die von Karsten Dusse erdachte Romanfigur zu Netflix – und zwar in Form Tom Schilling. Der aus Filmen wie Oh Boy. Werk ohne Autor und Fabian oder Der Gang vor die Hunde bekannte Schauspieler war schon in vielen erfolgreichen Literaturverfilmungen zu sehen. Dusses Vorlage zu Achtsam Morden verortet er grob zwischen Dostojewski und Tarantino.
Erzählt wird die Geschichte eines Anwalts, der eigentlich nur Zeit mit seiner Tochter verbringen will, doch dann von einem seiner Klienten in eine Spirale aus Gewalt und Verbrechen hineingezogen wird. Doch für Björn Diemel ist das kein Problem. Denn seitdem er an einem Achtsamkeitsseminar teilgenommen hat, kriegt er alles in den Griff. Auch den Mord an einem Gangsterboss, dessen Platz er fortan einnimmt.
Ein unscheinbarer Mann, der zum kriminellen Mastermind wird: Echos von Walter White und Breaking Bad hallen durch die 1. Staffel von Achtsam Morden. Doch wie ist es, eine solch ambivalente Figur zum Leben zu erwecken? Wie achtsam liefen die Dreharbeiten? Und kann ein Film bzw. eine Serie überhaupt besser sein als ihre Buchvorlage? Über all diese Dinge und mehr spricht Tom Schilling mit uns mit Interview.
Moviepilot: Wie bist du zu Achtsam Morden gekommen? Hattest du bereits zuvor Berührungspunkte mit der Buchvorlage?
Tom Schilling: Unser Produzent, Jan Ehlert, hatte den Roman schon vor seinem Erscheinen gelesen und für die Produktionsfirma Constantin Film optioniert. Als die ersten zwei Drehbücher vorlagen, also die Pilotfolge und die zweite Folge, bekam ich die von meiner Agentur zum Lesen und war daraufhin beim Casting für die Rolle. Und dann wollten Netflix und Constantin Film tatsächlich, dass ich das spiele.
Mit was für einem Mindset bist du damals in das Casting gegangen? Was, dachtest du, zeichnet dich am besten für die Rolle aus?
Ehrlich gesagt hilft es unglaublich, wenn man etwas nicht so doll will. Das könnte auch so ein Achtsamkeitstipp sein: Man erreicht mehr, wenn man weniger möchte. Als ich das Angebot für die Serie bekam, kannte ich die Reihe noch nicht. Aber nachdem ich den Roman gelesen habe, war ich total von den Socken und dachte mir: "Wow, das steckt da alles drin!" Wir haben dann allerdings mit unserem Headautor Doron Wisotzky noch viel Arbeit in die Bücher gesteckt, um diesen Karsten Dusse-Tonfall zu treffen.
Kannst du ein paar der Dinge nennen, die sich bei diesem Prozess verändert haben? Wie unterscheidet sich die jetzige Version von der ersten Fassung?
Da geht es vor allem um Tonalitäten und darum, werkgetreu, näher am Roman zu bleiben. Bei einer Literaturverfilmung muss man sich immer die Frage stellen, was erzähle ich, was lasse ich aus. Du kannst ein und dieselbe Geschichte auf ganz unterschiedliche Weise erzählen, indem du manche Bemerkungen, die eine Figur fallen lässt, aus der Adaption herausnimmst oder sie wieder hineintust. Unsere jetzige Version von Björn Diemel, der sich vieles erlaubt und wirklich nicht der wokeste Mensch auf dem Planeten ist, wird dem Roman ein bisschen gerechter als die davor.
Was war für dich das Wichtigste, das auf keinen Fall fehlen durfte?
Die Auseinandersetzung mit seiner Empfangsdame. Wenn man zu zart besaitet ist, gefällt das einem vielleicht nicht. Alle haben immer diese Angst: Das ist unsere Hauptfigur. Wir dürfen den nicht beschädigen. Der muss nachvollziehbar sein. Der muss freundlich sein. Aber es ist genau umgekehrt. Je weiter er geht, je mehr er sich herausnimmt und erlaubt, desto mehr Freude hat das Publikum mit ihm – ein Großteil jedenfalls. Wir haben uns auch die Rezensionen auf Amazon angeschaut. 90 Prozent lieben das Buch und zehn Prozent hassen es wie die Pest. Was ist das für eine ätzende Figur? Wie benimmt der sich? Das ist total menschenverachtend. Am Ende foltert er auch noch jemanden. Man kann es nicht jedem recht machen. Sonst kommt keine vielschichtige Figur dabei heraus.
Ich sehe Björn Diemel in der Tradition von Antihelden wie Tony Soprano und Walter White, die durch ihre Grauzonen erst richtig interessant werden. Zudem musste ich oft daran danken, mit was für einer hypnotisierenden Sogkraft Edward Norton Fight Club erzählt. Waren diese Figuren eine Inspiration für dich?
Das ist dieser sehr berühmte männliche Figurenkosmos, den wir schon oft in Serien gesehen haben. Ich habe mir aber nicht direkt etwas von denen abgeschaut. Meine Aufgabe war es, Björn Diemel so authentisch und so cool wie möglich zu machen. Wenn ich Björn spiele, will ich, dass man mir folgt und mich nicht infrage stellt. Und dazu tue ich alles, was nötig ist.
Hattest du das Gefühl, dass ihr irgendwann mit der Figur zu weit gegangen seid?
Wenn man das Buch und die Serie auseinandernimmt, ist er natürlich total problematisch. Immer sind die anderen Schuld. Im Buch ist es noch deutlicher seine Frau, auf die er die Schuld schiebt. Im Beruf wird er nicht befördert. Er hat keine Zeit für seine Tochter, obwohl er sie sich einfach nehmen könnte. Es müsste ja nicht unbedingt das ganz große Haus und das ganz teure Auto sein. Aber wenn ich so eine Figur spiele, darf ich das nicht hinterfragen, weil das die Figur auch nicht macht. Und deswegen gibt es in diesem Fall kein "zu weit", sondern nur ein "nicht weit genug".
Du hast gesagt, dass Werktreue wichtig ist. Als Schauspieler interpretierst du aber eine Figur vor der Kamera. Was hast du Björn hinzugefügt, wo du als Schauspieler sozusagen zum Co-Autor der Figur geworden bist?
Ich sehe mich da nicht als Co-Autor. Ich finde eher, es ist ein großes Geschenk, so eine tolle Vorlage zu haben, die super filmisch und psychologisch richtig stark gebaut ist. Mich hat das Buch an Dostojewskis Schuld und Sühne erinnert. Dieser eher angepasste Mann bricht das größte gesellschaftliche Tabu und fühlt sich plötzlich total frei. Er steht über dem Gesetz und das gibt ihm ein unglaubliches Hochgefühl. Karsten Dusse schreibt dazu so exzellente Dialoge. Es wäre total schade, die nicht in dieser Breite und Gänze und allen Bögen, die sie machen, zu übernehmen. Das ist fast schon tarantino-esk.
Du hast beim Lesen bestimmt einige konkrete Bilder vor Augen gehabt. Passen die immer noch zu den Bildern, die jetzt die Serie liefert?
Hm, nein, wahrscheinlich nicht. Das ist die Tragik an Verfilmungen. Sie nehmen irgendwie die Fantasie.
Ist es eine Tragik oder eine Erweiterung?
Ich finde nicht, dass es eine Erweiterung ist.
Bedeutet das, dass alle Verfilmungen, egal, was wir aus ihnen machen, zum Scheitern verurteilt sind?
Nein, weil es auch mittelmäßige Bücher gibt, die man zu starken Verfilmungen machen kann.
Mit Eine Million Minuten hast du erst kürzlich in einer Romanverfilmung mitgespielt, die auch ganz gut zum Achtsamkeitsbegriff passt. Konntest du durch die Arbeit an der Serie noch etwas Neues für dich mitnehmen?
Ich habe dieses Mal gar nicht so viel mitgenommen, da ich mich schon vorher mit dem Thema beschäftigt habe. Ansonsten hätte ich diese Projekte nicht drehen können. Natürlich gelingen mir Rollen immer besser, wenn ich sie persönlich aufladen kann. Wenn ich verstehe, wie die Figuren ticken. Wenn ich jetzt keine Kinder hätte und nicht in einer Beziehung leben und versuchen würde, alles unter einen Hut zu bekommen, dann könnte ich mit meiner Figur in Eine Million Minuten und dem Björn Diemel nicht so viel anfangen. Dann könnte ich die Rolle nicht mit einem eigenen Gefühlsleben füllen.
Ich stelle mir die Arbeit an einem Filmset sehr stressig vor. Viele Dinge passieren gleichzeitig. Konntet ihr das Achtsamkeitsthema auf die Produktion übertragen?
Ja, wir haben es versucht, indem wir mit unserer tollen Regisseurin Martina Plura frühmorgens Achtsamkeitsübungen gemacht haben.
Was habt ihr da so gemacht?
Wir waren zum Beispiel achtsam laufen. Ich habe mal eine Übung gemacht, bei der wir uns in einen Kreis gestellt haben. Jeweils zwei Leute haben sich eine Minute lang achtsam in die Augen geschaut. Das war auch geil. Oder eine Minute auf dem Boden liegen und achtsam atmen. Das ist wie eine Bremse für das achtlose Arbeiten, das man oft am Set macht. Jeder ist mit seinen Sachen beschäftigt. So kommt man am Anfang des Tages kurz zu sich selbst. Funfact: Wir haben immer mehr Leute verloren und am Ende waren es nur noch Martina und ich. [lacht]. Viele haben dann gesagt: "Ja, morgen machen wir wieder mit." Aber es kam keiner mehr zurück.
Damit ist doch eigentlich das ganze Konzept gescheitert, oder?
Es ist gescheitert, ja.
Was hätte man tun müssen, damit es funktioniert?
Das ist eine gute Frage. [Überlegt nachdenklich]. Man kann es nicht erzwingen. Es kommt zu einem, wenn man bereit dazu ist.
Achtsam Morden streamt seit dem 31. Oktober 2024 bei Netflix.