Darum müsst ihr Green Book in der Oscar-Saison ernst nehmen

01.02.2019 - 19:30 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
Green BookEntertainment One/A.M.P.A.S.
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Nach einem Triumph bei den Golden Globes und den PGA Awards gilt Green Book auch bei der Oscar-Verleihung als Favorit. Großartigen Hauptdarstellern und einer dringlichen Thematik standen zuletzt jedoch mehrere Kontroversen gegenüber.

Rein theoretisch bringt Green Book alles mit, um bei der Verleihung von Filmpreisen groß abzuräumen. Beim Oscar 2019 wurde der Film bislang mit fünf Nominierungen belohnt, darunter für den Besten Film. Für Regisseur Peter Farrelly markiert er den Wechsel von derberen Komödien in ernsthafteres Terrain. Für Auszeichnungen empfiehlt sich Green Book durch seine dringliche, nach wie vor hochaktuelle Rassismus-Thematik, die mit einem tragikomischen Ansatz angegangen wird, der auch schon einen vergleichbaren Film wie Ziemlich beste Freunde zum Millionenerfolg machte.

Außerdem werden die Hauptfiguren von Mahershala Ali und Viggo Mortensen gespielt, die bereits durch Nominierungen und/oder Siege einen Stein im Academy-Brett haben. Die Oscar-Chancen des Films sind also beträchtlich. Im eigentlich so perfekten Awards-Season-Narrativ zu Green Book zeigten sich aber in den vergangenen Wochen Risse. Es häuften sich die Kontroversen, die mit der Qualität des Films nichts zu tun hatten.

Diskussionen um Green Book sind längst unausweichlich geworden und werfen ebenso wie die Kontroverse rund um Bohemian Rhapsody sowie jüngste Entwicklungen bezüglich Regisseur Bryan Singer  Fragen auf. Hat Green Book dadurch überhaupt noch Oscar-Chancen und wie sollte mit dem Film aktuell umgegangen werden?

Green Book als "wahre Geschichte" voller Widersprüche und Lügen

Bisher begann die Oscar-Saison für Green Book fast ideal. Wie der spätere Oscar-Gewinner The King's Speech gewann der Film nach seiner Weltpremiere beim Toronto International Film Festival den Publikumspreis.

Mit The King's Speech teilt sich Green Book zudem die Tatsache, dass er auf einer wahren Geschichte basiert. In dieser wird der talentierte Pianist Don Shirley in den 1960er-Jahren von dem rassistischen Türsteher Frank Vallelonga durch die noch viel rassistischeren Südstaaten für eine Konzert-Tournee chauffiert. Diese angeblich wahre Geschichte sorgte jedoch schließlich für die erste größere Kontroverse rund um Green Book.

Green Book

Ende 2018 berichtete Shadow and Act  darüber, dass Familienmitglieder des realen Don Shirley große Teile der Handlung von Green Book als Fiktion und Lügen bezeichnet hätten. Edwin Shirley III, der Neffe des 2013 verstorbenen Don Shirley, bezeichnete die im Film dargestellte Entfremdung des Musikers von seiner Familie, afroamerikanischen Freunden und damit seinen eigenen Wurzeln als 100 Prozent falsch.

Don Shirleys letzter noch lebender Bruder Maurice Shirley nannte Green Book gar eine Symphonie aus Lügen. Während im Film behauptet wird, dass Shirley zum Zeitpunkt der Handlung einen Bruder hätte, mit dem er schon lange nicht mehr in Kontakt war, gibt sein realer Bruder an, dass Shirley zu diesem Zeitpunkt drei Brüder hatte, mit denen er unentwegt in Kontakt stand.

Auf die Frage, ob Shirley und Frank Vallelonga wirklich so gut befreundet gewesen waren, antwortete Maurice Shirleys Frau Patricia, dass dies keineswegs der Fall war. Sie sei Vallelonga damals einige Male begegnet und bei dem Verhältnis zwischen ihm und Don Shirley habe es sich um ein reines Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gehandelt.

In dem umfangreichen Bericht von Shadow and Act finden sich noch viele weitere solcher Aussagen, die der Behauptung von Co-Autor sowie Produzent Brian Currie entgegenwirken, der The Hollywood Reporter  gegenüber angab, dass jedes einzelne Ereignis in dem Film wirklich so stattgefunden hätte.

Green Book

Über das Team von Green Book gab es unbequeme Enthüllungen und Vorfälle

Kurz nachdem Green Book mit drei Golden Globes ausgezeichnet wurde, warf ein neuer Bericht von The Cut  über ein gut 20 Jahre altes Interview mit Peter Farrelly ein unangenehmes Licht auf den Regisseur. Darin ging es um eine Art Scherz der Farrelly-Brüder, bei dem Peter Farrelly während Dreharbeiten immer wieder ahnungslosen Opfern seinen Penis zeigte. Ein Humorverständnis, das Hand in Hand geht mit früheren Komödien der Farrellys wie Dumm und Dümmer, Ich, beide & sie oder Schwer verliebt. Ungefähr 500 mal soll der Regisseur den Scherz durchgeführt haben.

Was viele als perversen Running-Gag einstufen könnten, erhält gerade in Zeiten der #MeToo-Debatte einen umso unbequemeren Beigeschmack. So wird aus einem unreifen Scherz schnell ein Fall von eindeutigem sexuellen Fehlverhalten. Ein Umstand, dem Peter Farrelly umgehend mithilfe einer persönlichen Entschuldigung sowie des Zeigens von starker Reue entgegensteuern wollte.

In die Kritik geriet zudem Green Book-Hauptdarsteller Viggo Mortensen bei der Fragerunde nach einer Vorführung des Films. Als er das N-Wort laut aussprach  und sagte, dass solche Wörter nicht mehr öffentlich geäußert werden dürften, folgte darauf öffentliche Empörung. Die getroffene Entschuldigung  des Schauspielers ließ nicht lange auf sich warten.

In ein problematisches Licht rückte außerdem einer der Drehbuchautoren des Films. So berichtete NBC News  von einem mittlerweile gelöschten Tweet von Nick Vallelonga, dem Sohn des realen Frank Vallelonga, in dem dieser 2015 islamophoben Äußerungen von Donald Trump zustimmte. Dabei bezog er sich auf die Aussage, dass Tausende muslimische Einwohner in Jersey City bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gejubelt hätten:

Screenshot des gelöschten Tweets von Nick Vallelonga

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Hauptdarsteller Mahershala Ali ebenfalls Muslim ist, mutet es reichlich fragwürdig an, dass ein derart rassistischer Tweet von jemandem stammt, der am Drehbuch eines Films beteiligt ist, das sich selbst eine anti-rassistische Botschaft als Ziel gesetzt.

Die kurz darauf veröffentlichte Entschuldigung von Nick Vallelonga an all diejenigen, die an Green Book beteiligt waren, sowie an sämtliche Anhänger des muslimischen Glaubens wirkt hierbei lediglich wie die typisch obligatorische Ausflucht vor tieferen Problemen.

Probleme und Kontroversen, die Green Book in Sachen Oscar-Saison bis heute aber kaum geschadet haben. Nach dem Golden Globe-Sieg im Januar wurden Mahershala Ali und Viggo Mortensen beispielsweise bei den SAG-Awards ebenfalls als beste Darsteller ausgezeichnet.

Außerdem gewann Green Book bei den Producers Guild Awards die höchste Auszeichnung. In der 29-jährigen Geschichte der PGA-Awards gewannen bereits 20 Filme den Preis, die anschließend bei den Oscars auch als Bester Film gekürt wurden. Hierzu zählte auch der letztjährige Sieger The Shape of Water.

Aller Kontroversen zum Trotz ist Peter Farrellys Tragikomödie längst zu einem Film geworden, der eine sorgfältigere Auseinandersetzung und Betrachtung einfordert.

Green Book zwingt den Zuschauer zur tieferen Auseinandersetzung

Nichtsdestotrotz handelt es sich bei Green Book ebenso wenig wie bei Bohemian Rhapsody um ein simpel zu konsumierendes Stück Unterhaltungskino. Auch wenn der Film nach außen hin wie eine leicht bekömmliche Variation von Miss Daisy und ihr Chauffeur wirkt, zwingt der Film ein aufgeschlossenes Publikum zur tieferen Auseinandersetzung mit den äußeren Rahmenbedingungen seiner Entstehung.

Die komplexe Debatte über die Trennung zwischen Künstlern und Kunstwerken wird im Fall von Green Book durch die realen Hintergründe erweitert, bei der vorgegebene Fakten und wahre Ereignisse womöglich zugunsten fiktionalisierter und dramaturgischer Maßnahmen stark verzerrt wurden.

Green Book

Dass sich Green Book selbst aufgrund der jüngsten Kontroversen rund um den Film noch durchaus große Chancen bei der kommenden Oscar-Verleihung am 24.02.2019 machen darf, steht außer Frage. Zu dringlich ist die Thematik der dargebotenen rassistischen Konflikte, denen das Drehbuch des Films oftmals mit gefälligen Lösungsmaßnahmen entgegenwirkt.

So dürfen sich ein verbitterter, von purem Selbsthass auf die eigene Herkunft getriebener Musiker und ein rassistischer Großstädter aus der Bronx schließlich doch noch die unmöglich scheinende, Freundschaft versprechende Hand reichen. Ein Thema, das in Green Book überwiegend unterhaltsam im Fahrwasser der Buddy-Komödie an das Publikum gebracht wird. Zwischendurch darf es auch kurz ernst werden, doch eigentlich soll der Zuschauer diesen Film schnell und einfach ins Herz schließen.

Dass Mahershala Ali und Viggo Mortensen für Auszeichnungen infrage kommen, stellen beide Hauptdarsteller mit nahezu unwiderstehlicher Chemie vor der Kamera unter Beweis. Ihre durchaus stereotyp angelegten Charaktere spielen sie mit einer Hingabe, die immer wieder amüsante oder zutiefst menschliche Facetten zu Tage befördert.

Die Hauptdarsteller verleihen Green Book einen aufrichtigen Puls, der über sämtliche Kontroversen hinweg pocht. In Anbetracht des gesteigerten Bewusstseins für Missstände und verschwiegenes Fehlverhalten innerhalb der Filmindustrie stellt sich jedoch eine Frage: Wie lange kann ein solcher Puls bei kontroversen Oscar-Filmen wie Green Book unproblematisch schlagen?

Werdet ihr euch Green Book trotz der jüngsten Kontroversen ansehen?

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