Das älteste Kino der Welt ist tot: Der Verlust trifft die Filmlandschaft ins Herz

29.04.2019 - 18:00 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
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Das Gabriel Filmtheater in München war das älteste Kino der Welt, nach über 110 Jahren hat es nun plötzlich dichtgemacht. Für den Autor ein Schock, sind kleine Kinos dem Untergang geweiht?

Der Boden vibriert, als gäbe es kein Morgen mehr. Für so ein kleines Kino ist der Sound wirklich beachtlich. Doch dann entpuppt sich das vermeintliche Dolby Atmos als bloßer Klang der Realität, der Lärm ertönt nicht aus den Boxen, sondern von draußen: Die Straßenbahn rattert gerade unüberhörbar am Gabriel vorbei, willkommen im Mikrokosmos Großstadtkino.

Die Tram dreht auch heute noch in der Dachauer Straße ihre Runden, im angrenzenden Kinosaal gibt sie den Ton aber nicht mehr an. Das Gabriel Filmtheater in München, das im Jahr 1907 eröffnet wurde, wurde nach fast 112 Jahren bis auf Weiteres geschlossen. Es galt als das älteste Kino der Welt, so die SZ  2010. Es ist nicht das erste traditionswürdige Lichtspielhaus, das in diesem Jahr kapituliert, und es wird auch nicht das letzte sein.

Mit dem Gabriel stirbt ein Stück Filmgeschichte

Ob das im Stadtteil Maxvorstadt gelegene Gabriel wirklich das älteste, bis zuletzt noch aktive Kino des Planeten war, darüber schieden sich zwar die Geister. In Fachkreisen wird dieser Titel auch gerne dem Kino Pionier 1907 im polnischen Stettin zugeteilt. Geht es nur um den deutschen Raum, fällt oft der Name Moviemento aus Berlin Kreuzberg, das ebenfalls 1907 seine Pforten öffnete.

So ganz einig ist man sich also nicht. Die vom deutschen Schausteller Carl Gabriel gegründete Einrichtung war so oder so einer der beständigsten, durchgehend bespielten Vertreter der Geschichte. Allerdings war das gute Stück bei aller Liebe strenggenommen nichts Besonderes.

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Ein bisschen Altbau hier, ein wenig Putz da - das war’s auch schon, ein Kiezkino mit zwei Sälen halt. Letzterer hatte gerade mal vier Sitzreihen, ansonsten gab es wenig Spektakuläres, was mit dem Alter mithalten könnte. Dennoch trifft das Aus des Gabriels mitten ins Herz, stellte es für mich ein zweites Wohnzimmer dar. Büro trifft es besser, gefühlt alle Münchner Pressevorführungen fanden im Gabriel statt. Die Wahl des Sitzplatzes? Natürlich immer ganz hinten, nah am Rand, warum auch immer.

Aber verdammt noch mal, ich saß im ältesten Kino der Welt! Mehr Cinephilie geht doch eigentlich nicht. Betreiberin Alexandra Gmell machte daraus aber nie eine große Sache, denn ein Rekord allein "bringt mir keinen Zuschauer mehr", wie sie der Süddeutschen  Anfang 2019 verriet. Selbst prominente Cineasten wie Trautmann-Regisseur Marcus H. Rosenmüller und die SPD setzen sich öffentlich für eine Wiedereröffnung ein, dazu müsste die Kommune München das bald zum Verkauf stehende Gebäude erwerben.

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Kinos in staatlicher statt privater Obhut? Das Konzept erinnert an die Wohnungsnot in deutschen Großstädten. Auch das alteingesessene wie winzige Berliner Ladenkino Intimes stellte kürzlich nach über einem Jahrhundert den Betrieb ein, es befand sich im von der Gentrifizierung bedrohten Viertel Friedrichshain. Eine Neueröffnung soll bei der Mietergenossenschaft in Planung sein. Nur einen Sprung weit entfernt hat dagegen die Multiplex-Kette UCI einen neuen Luxustempel aus der Taufe gehoben, eine graue Betongewalt mit dem Charme eines Standesamtes. Altes muss Neuem weichen, stirbt das Programmkino jetzt aus?

Von wegen Massensterben: Das Programmkino muss sich nicht verstecken

Das Gabriel mag betagt und klein gewesen sein, ein Programmkino war es streng genommen jedoch nie. Das Theater passte während seines langen Bestehens die Filmauswahl stets der aktuellen Lage an. Der Begriff "Programmkino" ist ohnehin recht schwammig. Laut der Filmförderungsanstalt  (FFA) versteht man unter diesem "all diejenigen Kinosäle, bei denen der Betreiber einen inhaltlichen Programmanspruch verfolgt".

812 Leinwände von insgesamt 4.803 Kinosälen erfüllten laut einer Studie der FFA im Jahr 2017 dieses Kriterium. Dass ein Programmkino nur einen einzelnen Vorführraum hat, ist übrigens ein Aberglaube. Um als rein solches bei der FFA zu gelten, darf er sogar über neun verfügen.

Trostloser Gigantismus: Multiplex-Kinos

Ein noch größerer Irrtum ist jedoch die Annahme, Arthouse-Kinos würden ihren Exitus erleiden. Denn auch wenn namhafte Kiez-Vertreter zuletzt den Dienst quittierten und der deutsche Kinomarkt einen starken Zuschauerschwund verzeichnet hat, sieht daran gemessen die aktuelle Lage des Programmkinos durchaus stabil aus. Die FFA wertete aus:

  • Programmkinos verzeichneten 2017 bundesweit einen Umsatz von etwa 113 Millionen Euro, eine Steigerung zum Vorjahr um 1,7 Prozent.
  • Arthouse-Kinos erreichen mehr als 10 Prozent des Umsatzes des gesamten deutschen Kinomarkts
  • Mehr als beachtlich, bedenken wir den Ticketpreis von nur durchschnittlich 7,43 Euro. Multiplexe verlangen über einen Euro mehr.
  • Bei der Auslastung können Programmkinos erst recht mit den großen Ketten mithalten: Mit durchschnittlich 147 Besuchern pro Sitzplatz liegen sie nahezu gleichauf mit dem bundesweiten Mittelwert.

Das Zauberwort: Nachhaltigkeit

Dass kleine Filmkunstpaläste trotzdem regelmäßig von der Bildfläche verschwinden, liegt häufig an ihrer Lage. Der Immobilienmarkt der hiesigen Großstädte detoniert geradezu, das geht auch am Bewegtbild nicht spurlos vorbei: 90 Säle mussten 2018 dichtmachen, ganze 136 öffneten dafür ihre Türen. Die Szene ist hochdynamisch, wer sich mit der Zeit nicht neu erfindet, hat das Nachsehen, Tradition allein reicht da nicht. Auch die AG Kino , die Gilde deutscher Filmkunsttheater, sieht nach vorne und beansprucht ein "nachhaltiges Kino".

Nur mit dieser Nachhaltigkeit kann ein Kino auch langfristig bestehen. Die AG Kino verfasste dazu einen Fahrplan, mit dem Erhalt und Modernisierung des Kinos angestrebt werden, der Schwerpunkt: Arthouse. Als notwendige Maßnahmen für eine sichere Zukunft nennt der Verband unter anderem Barrierefreiheit, die Erneuerung von Digitalprojektoren und auch die "Erhöhung der Aufenthaltsqualität". Von einer "Cinema Experience" ist die Rede.

Cinema Experience: Bei der Kette UCI ist es Luxus, im Neuen Off in Neukölln das 1950er-Jahre-Flair.

Cinema Experience? Was ist das? Die AG Kino führt diesen Aspekt nicht weiter aus, doch könnte er entscheidend sein, wenn es um die Frage geht, warum wir überhaupt in kleine Jugendstil-Filmhäuser gehen. Liegt es wirklich am namensgebenden Programm? Oder am günstigen Preis? Oder tatsächlich am Aufenthalt selbst? Heute setzen die Kinos vermehrt auf eben jene Experience, während der Film eher Staffage ist. Logisch, schließlich kann man den auch woanders sehen, zum Beispiel zu Hause.

Wie die Politik unsere Kinos retten will

Im Fall der Multiplexe dient als Verkaufsargument der elektrisch verstellbare Luxus-Sessel, beim Arthouse ist es die Verschmelzung mit Café und Bar. Oder man trifft sich im Szeneviertel gelegenen Theater zum Diskurs. In meinem neuen Stammhaus, dem Casablanca im Berliner Stadtteil Adlershof, wird über die Architektur wie das Interieur dem namensgebenden Klassiker nachempfunden, am Sonntag gibt es Frühstück mit Stullen. Ach ja, irgendein Film läuft auch noch.

Der Erhalt gelingt nur im Einklang mit der Modernisierung. Das Alte soll nicht dem Neuem weichen, sondern mit ihm gehen. Das Programmkino muss sich neu erfinden, wenn es dem wachsenden Streaming-Markt mit Netflix und Co. dauerhaft standhalten will. Die Zielpunkte der AG Kino hat auch zum Teil die Bundesregierung erhört. Im aktuellen Koalitionsvertrag der CDU heißt es:

Damit der kulturell anspruchsvolle Kinofilm in der Fläche wirkt, wollen wir den Kulturort Kino auch außerhalb von Ballungsgebieten durch ein kofinanziertes 'Zukunftsprogramm Kino' stärken und erhalten.

Worte, denen Taten folgen sollten: Am 18.04.2019 gab die Gilde deutscher Filmkunsttheater  bekannt, dass im Bundeshaushalt 2020 15 Millionen Euro für dieses Programm investiert werden. Nicht für das Gabriel: Zum gleichen Zeitpunkt schloss das älteste Kino der Welt zum letzten Mal seine Vorhänge. Auf gut Bayrisch sag ich: Schee war's.

Hat euer kleines Lieblingskino noch auf? Was schätzt ihr an den Programmhäusern?

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