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Der Filipino- oder Tagalog-Film

13.12.2021 - 22:19 UhrVor 10 Monaten aktualisiert
The Woman in the Septic Tank
moviepilot
The Woman in the Septic Tank
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Ich möchte an dieser Stelle Werbung machen für den philippinischen Film, der viel zu wenig wahrgenommen wird.

Nur zwei oder drei meiner MP-Buddies, die internationale Filmkunst schätzen, haben ein paar Werke bewertet oder kommentiert, obwohl Insider den Philippinischen Film feiern (z.B. https://taz.de/Oefter-im-Ausland/!835350/)

Etwas bekannter, da international preisgekrönt und auf Portalen wie MUBI zu streamen, sind die Regisseure Lav Diaz und Raya Martin. Beide haben sowohl Filme gemacht, die eher für ein Intellektuelles Nischenpublikum interessant sein dürften, als auch einfacher zugängliche Produktionen.

Lav Diaz kennt man für ellenlange und extrem langsame Filme in sw, wie z.B. Evolution of a Filipino Family (2004).

Raya Martin hat durch den in Cannes aufgeführten Independencia (2009) eine gewisse Bekanntheit in Europa erlangt.

Was mich neben der oftmals herausragenden Kamera, der hohen technischen Qualität, den überzeugenden Darstellern, guten Geschichten und der Liebe für Details an den philippinischen Produktionen anspricht, ist das spezifische Lokalkolorit. Das habe ich in dieser Häufigkeit und Selbstverständlichkeit noch aus keinem anderen armen Land gesehen. Die Locations in vielen Produktionen lassen in mir das Empfinden entstehen, als wäre ich selbst (wieder) vor Ort. Es gibt Kleinigkeiten zu sehen, die man als aufmerksamer Mensch bemerkt, wenn man asiatische Länder bereist und natürlich noch viel mehr Dinge, die man als vorsichtiger Reisender keinesfalls zu sehen bekommt. Diese Authentizität vermiss(t)e ich in Produktionen anderer asiatischer Länder.

Einige Regisseure verwenden offenbar ganz selbstverständlich Menschen aus der Unterschicht als Hauptprotagonisten und reale Umgebungen. Der extremste von ihnen ist vielleicht Khavn, der als Guerilla-Regisseur bezeichnet wird. Er dreht seine Filme mit geringem oder keinem Budget und nutzt Großteils die vorhandenen Gegebenheiten. Die Ergebnisse sind nicht immer sehenswert, aber manches ist intensiv und so besonders, dass ich ihn allen, die sich für ungewöhnliche Filmkunst und Skurriles interessieren, nur ans Herz legen kann. Am besten gefällt mir Son of God (2010), ein halbdokumentarischer Film über einen Kleinwüchsigen, der sich eben als Gottes Sohn ausgibt. Bei dieser Produktion hat er mit dem Dänen Michael Noer zusammengearbeitet.

Der erste halb-philippinische Film, den ich vor einigen Jahren gesehen hatte, war Metro Manila (2013) von Sean Ellis. Dabei handelt es sich um eine fantastische Milieustudie über eine philippinische Bauersfamilie, die gezwungen ist, in den Großraum (=Metro) Manila zu gehen, um Geld zu verdienen. Da diese Menschen keine Vorstellung von den kriminellen Energien einiger Stadtbewohner haben, fallen sie auf Betrüger herein und stehen am Ende ohne einen Cent auf der Straße. Dabei gibt es hier keinen Disney-Kitsch oder Übertreibungen, stattdessen sieht man nüchterne, eindrückliche Bilder der Lebensrealitäten der Menschen und eine Atmosphäre, die einem unter die Haut geht.

Als ich 2021 mit der gezielten Sichtung philippinischer Produktionen begonnen habe, war The Woman in the Septic Tank (2011) ein Zufallstreffer auf FILMINGO, der mich geflasht hatte, sowohl von den Bildern her, als auch von der langsam aufkeimenden Erkenntnis, dass es dort offenbar so eine Art Slum-Porno-Unterhaltungsfilm-Industrie gibt. Es ist also eine Film-im-Film-Geschichte: Zwei junge Indie-Filmemacher wollen die Geschichte einer armen Slumbewohnerin erzählen. Für die Hauptrolle hätten sie gerne die bekannte Schauspielerin Eugene Domingo, die sich hier selbst spielt. In der Realität hat sie in allen möglichen Kitschfilmen mitgewirkt und oft melodramatische Rollen in eben genau solchen Produktionen, die keinem weh tun, gespielt. Nun freut sie sich (im Film) darüber, dass sie endlich mal in einer Indie-Produktion mitwirken darf. Sie mischt sich dann aber sehr in Drehbuch und Regie ein. Die Dynamik zwischen ihr und den beiden Nachwuchstalenten fand ich ziemlich lustig. Aber tatsächlich sollte man bereit sein, sich auf die Geschichte einzulassen, um den Film mögen zu können und es hilft vielleicht, diese Hintergrundinformationen zu kennen.

Ich war überrascht, mit welcher Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit Slums und ihre Bewohner für viele Spielfilme genutzt werden. Statt auf die Tränendrüse zu drücken, wie das viele Hollywood-Produktionen tun, werden gnadenlos authentisch die brutalen Lebensumstände aufzeigt und Geschichten erzählt, die sich eben in Slums abspielen (könnten).

Die philippinische Filmkunst kann locker mit Produktionen anderer asiatischer Länder, wie Südkorea, Hongkong, Taiwan oder Japan mithalten. Mir gefallen Filme aus diesem Land sogar besser, weil das Over-Acting und häufig für mich nicht nachvollziehbare Verhaltensweisen oder sehr einseitige, bzw. abstruse Handlungen wegfallen. Im Rahmen meiner begrenzten Möglichkeiten ist mir eine große Bandbreite an guten Produktionen aufgefallen, angefangen von Familiendramen über Liebesgeschichten, extremen Brutalo-Thrillern und Horrorfilmen, sensiblen Milieustudien bis hin zu authentisch wirkenden Tragödien oder Komödien.

Während man als Tourist den Eindruck bekommen kann, als hätten Jahrhunderte von Kolonialismus (durch Spanien, Japan und die USA) dafür gesorgt, dass es den Menschen an kultureller Identität fehlt, so spiegelt sich in der Filmkunst sehr wohl eine erkennbare, spezifische Identität wider.

Es ist mir ein Rätsel, warum dieses Land insgesamt in Deutschland und anderswo wenig Interesse weckt. Auf BaltiCineManiacs Oscar- und sonstige Filmpreislisten sind die Philippinen im Vergleich zu Nachbarländern so gut wie gar nicht vertreten.

In vielen philippinischen Filmen ist Manila Setting und Symbol zugleich. Die Hauptstadt steht für

und selten auch

Man könnte die Stadt mit einem mordlustigen Monster vergleichen, das sich von den Erlösungsfantasien und Hoffnungen seiner Einwohner ernährt.

Ich stelle nachfolgend exemplarisch vier Werke vor, die mir besonders gut gefallen bzw. die einen auf ihre Weise einzigartigen Stil haben.



Turumba (1981): Ist zwar als Doku gelistet, es handelt sich aber eher um einen Spielfilm, bei dem es um den „Einbruch des Kapitalismus in ein philippinisches Dorf“ (Kidlat Tahimik) geht. Die Darsteller sind Laien, was die dokumentarische Anmutung unterstreicht. Über Tahimik kann man lesen, dass er „..einer der wenigen philippinischen Regisseure ist, die in den 1970er und 80er Jahren abseits der Filmindustrie gedreht haben. Dass der vor Lebensfreude sprühende Querkopf überhaupt zum Film kam, ist übrigens nicht zuletzt der Verdienst von Werner Herzog. Der setzte Tahimik als Statist in Kaspar Hauser - Jeder für sich und Gott gegen alle ein und ermutigte ihn, sein Leben dem Kino zu verschreiben.“ https://www.critic.de/film/turumba-7161/.

Tahimik ist mit einer Deutschen verheiratet, weshalb seine Filme auch oft Bezüge zu Deutschland enthalten. Hier geht es bspwse um die Münchner Olympiade 1972. „Der Brückenschlag … hat einen autobiografischen Hintergrund. Denn Kidlat Tahimik kam 1972 nach München, um sich bei den Olympischen Spielen mittels Souvenirverkauf das Startkapital für ein Künstlerleben zu verdienen. Die Olympiade 1972 gilt heute als die erste, bei der die Vermarktung des offiziellen Maskottchens zum Bestandteil des Geschäftsmodells "Olympia" wurde. Tahimik hatte eine offizielle Lizenz für die Verwendung des "Olympia-Waldis" erworben und war nach eigener Angabe mit rund 25.000 in den Philippinen gefertigten Waldi-Windspielen (Mobiles) nach München angereist.“ http://kidlattahimik.de/die-filme/turumba/ 

Bemerkenswert ist außerdem noch, dass die Produktionsfirma von Turumba dem mittlerweile verstorbenen Regisseur Les Blank gehörte, dessen wunderbare Dokumentationen ich vor wenigen Jahren für mich entdeckt habe!

Auch wenn man dem Film sein Alter ansieht, hat er doch sehr viel Charme und versprüht kraftvolle Authentizität.

Für Interessierte ein schöner Artikel aus der Zeit: https://www.zeit.de/kultur/film/2016-03/balikbayan-1-philippinen-avantgarde-kino-kidlat-tahimik-film


Mariposa: Sa hawla ng gabi (2012): Das Herausstellungsmerkmal von Richard Somes´ Horror-Drama ist die Entwicklung der Protagonistin, die eine Antithese zum typischen Opfer darstellt: Maya, eine junge Frau vom Land macht sich auf nach Manila, um herauszufinden, was mit ihrer Schwester passiert ist. Sie begibt sich auf eine Reise in das Labyrinth der nächtlichen Metropole, in welchem du alles kriegen kannst. Und wenn du nicht aufpasst, wirst du selbst zum Objekt der Begierde irgendeines Verrückten. Wir bekommen es mit diversen (klein)kriminellen Milieus und Perversionen zu tun. Hinterhofmetzgereien voller Widerlichkeiten, Restaurants servieren Affenhirne und alle nur vorstellbaren Tiere des Dschungels. Organe werden vercheckt und plastische Chirurgen machen für ein paar Kröten alles, was der Kunde wünscht in improvisierten OP-Zimmern. Die Kamera ist leider nicht so gut, wie ich das aus anderen Produktionen gewöhnt bin, das wird aber durch die Atmosphäre wett gemacht.



Lola (2009): Brillante Mendoza ist der erste Filipino, der als bester Regisseur in Cannes ausgezeichnet wurde (Kinatay (2009)). Die meisten Filme, die ich bisher von ihm gesehen habe, haben mir mindestens gut gefallen. Hier geht es um eine Omi, deren Enkel erstochen wurde. Nun muss sie sich um die Beerdigung und den Gerichtsprozess kümmern. Irgendwann begegnet ihr die Omi des Täters. Es entwickelt sich eine spannende Geschichte um Täter-Opfer-Dynamiken. Die Kamera ist FANTASTISCH! Wer sich für Südostasien und gute Bilder begeistern kann, ist hier genau richtig!

West Side Avenue (2001): Einer der wenigen stringent erzählten Filme von Lav Diaz. Wir befinden uns an der West Side Avenue in New Jersey im Winter, was einen schönen Kontrast zum tropischen Klima der Philippinen darstellt. Der Originaltitel ergibt weitaus mehr Sinn, als der synchronisierte: "Batang West Side": Batang heißt auf Tagalog "jung". Und genau darum geht es: Die jugendliche philippinische Community an der West Side Avenue von New Jersey, die mit typischen Unterschichts-Problemen zu kämpfen hat. Die jungen Leute sind großteils drogensüchtig und wissen nicht wohin mit sich. Auch die Liebe bringt keine Erlösung. Es handelt sich sowohl um eine Milieustudie als auch um einen Krimi: Ein Kommissar ermittelt in einem Mordfall.


Mein Ranking von allen philippinischen Filmen, die ich gesehen und kommentiert habe: https://letterboxd.com/eudorafletcher/list/filipino-cinema/ 

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