Der verstörendste Berlinale-Film zeigt, wie Männer über Kindesmissbrauch denken

18.02.2022 - 10:00 UhrVor 2 Jahren aktualisiert
Mutzenbacher
Ruth Beckermann Filmproduktion
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Die Berlinale-Doku Mutzenbacher von Ruth Beckermann lässt Männer aller Altersklassen über ein Buch diskutieren, das lange als Kinderpornografie galt. Und gewährt damit einen Blick in sexuelle Abgründe.

Das größte deutsche Filmfestival ist seit jeher ein Ort für ungewöhnliche Filme. Viele davon stellen wir euch im Rahmen unserer Berichterstattung rund um die Berlinale 2022 vor. Die neueste Dokumentation von Ruth Beckermann hat nicht nur einen ungewöhnlichen Ansatz, indem sie dutzende Männer zwischen 16 und 99 Jahren für ein Fake-Casting einlädt, um aus einem Erotik-Buch vorzulesen.

Mutzenbacher widmet sich auch einem Thema, an das sich nur wenige herantrauen – die Darstellung kindlicher Sexualität. Oder genauer: Einem Buch über ein junges Mädchen, das von frühen Kindesbeinen an von Männern aus ihrer Familie und ihrem engsten Umfeld missbraucht und vergewaltigt wird.

Im Kern der verstörenden Dokumentation Mutzenbacher steht ein Buch, das Vergewaltigung schönredet

Lolita von Vladimir Nabokov versuchte zumindest noch, die Taten seines moralisch nicht zu vertretenden Protagonisten als nicht einvernehmlich herauszuarbeiten. Josefine Mutzenbacher (auch bekannt als Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt) verklärt Kindesmissbrauch als auch für das Kind befriedigende Erfahrung. Das Buch wurde anonym veröffentlicht. Als Autor gilt Felix Salten, der später mit Bambi weltberühmt wurde.

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Josefine Mutzenbacher war in Deutschland lange indiziert und zwischenzeitlich sogar als Kinderpornografie eingestuft. Trotzdem gilt der Roman von 1906 als eine Art Klassiker der erotischen Literatur. Aus heutiger Sicht eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Die Männer, die die österreichische Regisseurin Ruth Beckermann für ihren Film in ein Wiener Studio eingeladen hat, sollen deswegen vor laufender Kamera aus dem umstrittenen Skandalbuch vorlesen und anschließend ihre Gedanken dazu teilen. Und die offenbaren Abgründe.

Der Berlinale-Film lässt Männer von sexuellen Erfahrungen mit Minderjährigen schwärmen

Mal nehmen sie alleine auf der wild gemusterten rosa Couch Platz, mal mit anderen. Einige müssen von der Regisseurin aufgefordert werden, etwas zu sagen, andere hören gar nicht mehr auf, über das Buch zu sprechen. Besonders erschütternd ist die Geschichte zweier Männer, von denen einer um und der andere deutlich über 50 sein dürfte. Ersterer kommentiert eine Inzest-Szene zwischen Josefine Mutzenbacher und ihrem Vater als "geil" und erklärt anschließend, als Kind irgendwann aus dem Bett seiner Mutter geworfen worden zu sein, weil er sich an ihr gerieben habe.

Regisseurin Ruth Beckermann hat für Mutzenbacher dutzende Männer eingeladen

Der zweite erzählt, wie er als Fotograf nicht nur Sex mit einem seiner Models hatte, sondern gleichzeitig auch mit deren 14-jähriger Tochter. Die habe schließlich gefragt, ob sie "mitmachen" dürfe. Die Filmemacherin lässt ihre Protagonisten ausreden. Nur manchmal fragt sie nach oder lässt sich Dinge genauer erklären. Der Kamera entgeht nichts – kein unangenehm berührtes Rumrutschen auf der Couch, keine ungläubig hervorquellenden Augen eines jüngeren Mannes, der gar nicht fassen kann, was der Typ, mit dem er auf der Couch sitzt, da gerade ausspricht.

Ruth Beckermanns Mutzenbacher ist trotzdem einer der wichtigsten Filme der Berlinale 2022

Gerade weil die interviewten Teilnehmer so offen sind, zeichnet der Film ein vielschichtiges Bild zu der Frage, ab wann Sexualität nicht mehr einvernehmlich sein kann. Die zwei Beispiele in diesem Text stehen stellvertretend für Aussagen, die einen bis in die eigenen Albträume verfolgen. Ihnen gegenüber stehen Personen, die schockiert von der Sexdarstellung im Buch sind – und offen die Frage stellen, warum ein mutmaßlich männlicher Autor es als wichtig empfindet, einem kleinen Mädchen die Mitschuld an ihrer Vergewaltigung geben zu wollen.

Die Männer in Mutzenbacher sind vielleicht kein perfekter Querschnitt der Gesellschaft, bilden aber doch sehr unterschiedliche Ansichten zum und Perspektiven auf das Thema Sexualität ab. Die mögen zum Teil zwar indiskutabel sein, trotzdem ist es besser, sie ans Licht zu holen. So kann man zumindest darüber diskutieren. Und genau deswegen ist Ruth Beckermanns neuester Streich nicht nur einer der verstörendsten, sondern auch wichtigsten Filme der Berlinale.

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