Dystopische Filme mit Happy End sind inkonsequent

08.04.2014 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
StudioCanal
The Hunger Games - Catching Fire
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In dieser Woche steht bei moviepilot alles im Zeichen der Dystopie. Wir haben auch einen Fachmann zu Rate gezogen und Horst Schäfer sieben Fragen zur Endzeitstimmung in Jugendfilmen gestellt.

Wir haben mit Herrn Horst Schäfer gesprochen. Er ist unter anderem Dozent an der Universität Essen-Duisburg und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Jugendfilm. Für das Buch “Kein Ort. Niemals? Endzeitstimmung und Dystopie als Themen der Kinder- und Jugendliteratur” hat er das Kapitel “Hurra, die Schule brennt! Kinder und Jugendliche in dystopischen Filmen” beigesteuert.

Herr Schäfer: Sie sind Filmpublizist, Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen über Medienpädagogik, Medienpolitik und Film und halten unter anderem Seminare an der Universität Essen-Duisburg über dystopische Filme mit jugendlichen Akteuren bzw. für ein jugendliches Publikum. Was fasziniert Sie an dem Thema?
Mein Interesse an dystopischen Filmen und noch spezieller mit jugendlichen Protagonisten und Identifikationsfiguren gilt dem Stellenwert und der Bedeutung dieser Filme für Jugendliche (ab ca. 16 J.) als Zielgruppe. Der Jugend gehört die Zukunft – aber welche?

Seelen, Tribute von Panem, Divergent – Die Bestimmung: Hollywood versucht sich gerade an Jugendbüchern, die das Thema der Dystopie aufgreifen. Warum ist die Dystopie so aktuell und das nicht nur in Kinofilmen?
Jugendliche wollen wissen, was auf sie zukommt, welche Lebenswirklichkeit sie erwartet. Lebensstile und Lebensziele vermitteln sich auch über Filme, sie sind willkommene Projektionsflächen, die Jugendkulturen beeinflussen. In den dystopischen Filmen fokussiert sich ein Bild des Unbehagens und der Bedrohung, welches sich durch die konsequente Weiterentwicklung gegenwärtiger Missstände erklärt.

Wenn Sie verschiedene Filme Revue passieren lassen: Was sind immer wiederkehrende Motive, die in Dystopien eine Rolle spielen?
In den Jugendliche ansprechenden Handlungen und Gestaltungsräumen geht es um die Themenfelder Selbstvertrauen und Mut, Anerkennung und Respekt, Freundschaft und Solidarität. Ausschlaggebend für die eigene Positionierung sind der Grad der Betroffenheit sowie die emotionalen Qualitäten der Identifikationsfiguren. In Die Tribute von Panem – The Hunger Games ist es Jennifer Lawrence als Katniss. Eine idealtypische Besetzung, auch wenn sie zuvor in Winter’s Bone ihre bislang stärkste Rolle hatte; dort wirkte sie authentisch, in Panem ist ihr Charakter synthetisch.

Zu den genretypischen Merkmalen gehört die (auch strukturelle) Gewalt repressiver Machthaber gegenüber Jugendlichen. Eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen ihrer Probleme wie eine desolate Schulsituation, Arbeitslosigkeit, Drogenabhängigkeit oder Kriminalität bleibt aus. Die politisch Verantwortlichen haben versagt und ein Unterdrückungs- oder Vernichtungsfeldzug scheint die logische Konsequenz zu sein. Es sind nicht die postapokalyptischen Szenarien mit ihren überbordenden Schauwerten, die Jugendliche betroffen machen. Je mehr sich die dystopischen Filme aus ihrer aktuellen Lebensrealität ableitet, desto wirkungsvoller sind sie.

Die Abgrenzung zwischen Dystopie und Science Fiction im Film fällt immer etwas schwer. Hätten Sie vielleicht eine Formel parat, die es uns leichter macht, Filme in diese Bereiche einzuordnen? Oder sollten wir eher auf dieses Schubladen-Denken verzichten?
Immer dann, wenn man einen Film einem bestimmten Genre zuordnen will, weigert er sich mit aller Gewalt gegen diese Etikettierung. Da mag jeder einen eigenen Argumentationszusammenhang formulieren. Ich persönlich finde des Kosmos des Fantasy Films, den Hahn/Jansen/Stresau in ihrem “Lexikon des Fantasy Films” aufzeichnen, überzeugend und würde die dystopischen Filme bei den Gesellschaftsmodellen des SF-Films neben dem Utopischen Film einordnen. Allerdings schreiben die Autoren des Lexikons selbst in ihrer Vorbemerkung, dass die dokumentierten Filme zum “überwiegenden Teil aus Grenzfällen besteht”.

In Hollywood gibt es die Regeln des Happy Ends. Wie empfinden Sie es, wenn bei filmischen Dystopien immer auch die Zufriedenheit des Zuschauers eine Rolle spielt? Radikalität in der Aussage ist doch dann gar nicht möglich.
Dystopische Filme mit einem Happy End sind aus meiner Sicht nicht konsequent, sondern verspielen ihre Möglichkeiten. Wünschenswerter und wirkungsvoller ist ein offenes Ende mit einem ungewissen Ausgang der weiteren Entwicklung. Diese Filme verfügen über eine dialogstiftende Qualität und fördern die Kommunikation untereinander. Der Klassenfeind ist hierfür ein typisches Beispiel. Die Filme sollten dazu ermutigen, aktiv zu werden und sich aufzumachen, um “nur noch kurz die Welt zu retten”.

Es gibt zahlreiche dystopische Klassiker, zum Beispiel Blade Runner und Matrix. Was meinen Sie: Verfügen aktuelle filmische Dystopien über ähnliches Kult-Potential? Wir vermissen irgendwie die weltanschauliche Tiefe und stilistische Innovation.
Dystopische Filme sind nicht immer Mainstream-Filme. Kultfilme werden nicht produziert, sondern von den Kinogängern, hier: den Jugendlichen, zu solchen gemacht. Und da es nun einmal sehr unterschiedliche Vertriebs- und Rezeptionsformen von dystopischen Filmen gibt, ist eine einigermaßen seriöse Aussage darüber nicht möglich. Jugendkulturen sind sehr schnelllebig und oft divergierend. Nach meinen Erkenntnissen haben die Filme Die Klasse von 1984 und Die Klasse von 1999 das Potential zu vergleichsweise langlebigen Kultfilmen.

Und zum Schluss eine Frage, die die moviepiloten besonders interessiert. Welche dystopischen Filme würden Sie der Community empfehlen?
Empfehlen kann ich auf alle Fälle Battle Royale und Battle Royale 2. In Die Tribute von Panem – The Hunger Games sind die Protagonisten die Opfer eines perfiden “Spiels” (Brot und Spiele), in diesen Filmen jedoch hat die Gesellschaft den revoltierenden Kindern und Jugendlichen den “Krieg” erklärt.

Vielen Dank, Herr Schäfer.

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