Egoperspektive im Film - Mehr Hardcore gibt's nur im Schmuddelfilm

28.04.2016 - 09:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
HardcoreWild Bunch/Capelight/Central
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Im Egoshooter-Film Hardcore scheinen die Medien Film und Videospiel unmittelbar zu verschmelzen. Doch eine direkte Übertragung gängiger Videospielmuster auf die Leinwand birgt nicht nur technische Tücken.

Filme und Games nähern sich immer weiter an. Dabei beschränken sich die Gemeinsamkeiten schon lange nicht mehr auf Äußerlichkeiten. In der Reihe Verspielte Filme erkunden wir, wie sich diese wichtigsten Unterhaltungsmedien des 21. Jahrhunderts ästhetisch sowie thematisch beeinflussen und schauen uns an, auf welche Weise sich Games-Einflüsse in Filmen ebenso wiederfinden wie Filmstoffe direkt auf Computerspiele übertragen werden.

Als du aus blutdurchtränkten Träumen erwachst, findest du dich in einem Forschungslabor zu einem ungeheuren Cyborg verwandelt. Langsam den Kopf erhebend, blickst du in das Gesicht einer wunderschönen Frau, die lasziv an dir herumwerkelt. Du fragst dich, was mit dir geschehen ist, wie du hierhergekommen bist, warum sie dich Henry nennt, doch ohne Sprachmodul bist du sprachloser als Gordon Freeman . Kaum hast du dich an deine Robokalypse gewöhnt, ertönt plötzlich ein schrilles Alarmsignal. Explosiv wird eine massive Metalltür aus den Angeln gewuchtet und vermummte Schergen stürmen mit gezückten Gewehren hinein, in ihrer Mitte ein finsterer Blondschopf, dessen telekinetische Fähigkeiten dir wohl A.N.G.S.T.  einjagen sollen. Da ergreift die Frau deine Hand. Gemeinsam hechtet ihr verwinkelte Lüftungsschächte und grell durchflutete Korridore entlang, bis ihr endlich zu einer Rettungskapsel gelangt. Schon schießt ihr im Sturzflug durch die Wolkendecke, knallhart der Erde entgegen.

Die Exposition von Hardcore wirkt wie das Walkthrough eines hyperrealistischen Egoshooters. Motivisch biedert sich das komplett aus der Egoperspektive gedrehte Regiedebüt von Ilya Naishuller bei Videospielen überall dort an, wo es dem Schauwert besonders zuträglich ist: In getreuer Mirror's Edge -Manier schnellt der Held über Dächer und Häuser, ballert sich gleichfalls an John Woo gemahnend mit zwei Handfeuerwaffen  durch nicht enden wollende Gegnerhorden oder bemannt in der obligatorischen Railshooter -Sequenz die Minigun. Und wir sensationslüsternen Zuschauer sitzen bei dieser visuellen Achterbahnfart auf den vordersten Plätzen. Zudem bedient sich Hardcore nicht nur am visuellen Fundus von Videospielen, sondern sucht auch handlungstechnisch die mediale Nähe. Dazu gehören der an Gedächtnisschwund  leidende, stumme  Protagonist genauso wie die Levelstruktur des Films, die uns auf dem Weg zum Endgegner mittels allerlei Jump Cuts durch verfallene Industriekomplexe , ein rotlichtdurchflutetes Bordell  und einen bröckeligen Rohbau inklusive Sniper-Einlage im Ghillie Suit  schickt, alldieweil es immer wieder muskelbepackte Zwischenbosse auszuschalten gilt. Im Hardcore-Kino der Attraktionen scheinen Videospiel und Film sowohl ästhetisch als auch narrativ zu verschmelzen.

Im Auge des Betrachters

Dabei sind weder Filme, die ausschließlich aus der Egoperspektive gedreht wurden, noch die Transplantation gängiger Videospieltropen wirkliche Innovationen. Bereits die zum Scheitern verdammte Doom-Adaption von 2005 enthielt eine fünfminütige Egoshooter-Einlage, womit der Film als nächster Verwandter von Hardcore gelten kann. Gamer von 2009 sowie Der Spion und sein Bruder von 2015 sind weitere Beispiele von Filmen, die schon vorher zumindest partiell von diesem Gimmick Gebrauch machten. Auch Regisseur Naishuller hat bereits mit der konsequenten Beschränkung des Blickwinkels experimentiert, und zwar in den Musikvideos The Stampede & Bad Motherfucker  seiner Punk-Band Biting Elbows, die wiederum an den berüchtigten Clip zu Smack My Bitch Up  der Band Prodigy von 1997 erinnern. Aber die Geschichte der subjektiven Kamera, wie diese Technik auch genannt wird, reicht noch weiter zurück.

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Lady in the Lake von 1947 gebührt die zweifelhafte Ehre, der erste Film zu sein, der komplett aus der Egoperspektive gedreht wurde. Mit Ausnahme von zwei Szenen, in denen der Protagonist sich direkt an den Zuschauer wendet, zeigt der Film lediglich die Sicht des hartgekochten Privatdetektivs Philip Marlowe. So wurde der Film beim Erscheinen auch passend mit dem Slogan beworben: „Mysteriöserweise mit Robert Montgomery in der Hauptrolle … und dir!“

Die Raymond Chandler-Adaption gab sich seinerzeit als bahnbrechende technische Innovation des Kinos aus. Allerdings tat sich Lady in the Lake schwer damit, die personale Erzählhaltung des Romans in eine Bildsprache zu übertragen, die der Vorlage Genüge getan hätte. Abgesehen davon, dass damit so gut wie jede Regel klassischer Filmkunst gebrochen wurde, macht es die radikale Beschränkung des Blickwinkels nämlich für den Zuschauer ausgesprochen schwer, der komplexen Handlung zu folgen. Ohne Schuss-Gegenschuss bleibt die Dialektik von Chandlers Vorlage letztlich auf der Strecke, was sich schwerlich mit den Konventionen des Film Noir verträgt. Entsprechend urteilte eine zeitgenössische Rezension :

Obwohl die Kamera ein aktiver Teilnehmer und nicht bloß ein abseits stehender Reporter ist, hat Mr. Montgomery es versäumt, die Möglichkeiten dieser ungewöhnlichen Technik voll auszuschöpfen. Denn sobald man ein paar Minuten gesehen hat, wie eine Hand nach einem Türgriff langt oder eine Zigarette anzündet oder ein Glas hebt [...], beginnt die Neuigkeit sich abzunutzen.

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