Eine Diva, perfide Kids & viel Salami

27.06.2011 - 08:50 Uhr
Die Helden von Polisse
Wild Bunch/moviepilot
Die Helden von Polisse
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Das Filmfest München ist im vollen Gange und an meinem ersten Tag beim Festival konnte ich zwei Filme begutachten, die dieses Jahr in Cannes für Aufsehen sorgten: Die Dramen Polisse und Play, die sehr unterschiedlich Kinder ins Zentrum stellen.

Bevor ich überhaupt in München angekommen bin, habe ich im Zug eine wertvolle Erkenntnis gesammelt: Kleine Kinder sind selbst dann irgendwie süß, wenn sie auf dem Nachbarsitz in eine Kotztüte würgen. Nach diesem frühen Highlight meines ersten Tages beim Filmfest München stellte sich natürlich die Frage: Konnten die Filme diesen Adrenalinstoß toppen? Doch erstmal zurück zum Kotztüten-freien Festivalalltag…

Das Filmfest München hat sich an meinem ersten Tag als echtes Sommerfestival erwiesen, worauf die Berlinale zu Recht neidisch sein sollte. Doch da Herr Google aus unerfindlichen Gründen dunkle Wolken und martialische Blitze vorausgesagt hatte, war ich auf das schlimmste gefasst. Hinaus trat ich also aus dem ICE, unwirtliches Sturmwetter erwartend und wurde von der gleißenden Sonne begrüßt. Bei einem Filmfestival sind das Wetter und die kurzen Wege essenziell und in beiden Punkten hat das Filmfest München zumindest am Sonntag seinem Ruf alle Ehre gemacht. Als einziges Hindernis könnte sich in den nächsten Tagen der undurchschaubare Münchner Nahverkehr herausstellen. Ich sage nur: Streifenkarte und Kurzstreckentickets! Wenn ihr Tipps zum Verständnis dieses komplexen Konstrukts oder einen Link zu einer Doktorarbeit zum Thema habt, dann immer her damit!

Perfide Rollenspiele
Nachdem ich meine Akkreditierung und die ersten Tickets abgeholt hatte, mampfte ich noch schnell die x-te Salami-Stulle des Tages. Dann ging es auch schon zum ersten Film: Play von Ruben Östlund (Involuntary). Der hat sich ein einfaches, aber durchschlagendes Prinzip zum Ausgangspunkt genommen. Manchmal braucht es weder Blut, noch Gedärme, damit der Zuschauer sich unwohl fühlt. Manchmal genügt es vollkommen, eine Situation so alltäglich wie möglich einzufangen und diese dann Stück für Stück in eine psychische Belastung zu verkehren. Wer kennt das nicht? Ihr sitzt in der Straßenbahn und jemand beginnt, ob betrunken oder nicht, zu pöbeln. Schnell wandert der Blick der Unbeteiligten betreten nach unten. Genau dieses Phänomen greift Ruben Östlund in Play auf, ohne jedoch ein pathetisches Plädoyer für die Zivilcourage auf die Leinwand zu klatschen.

Grundlage für Ruben Östlunds nüchternen, geradezu sezierenden Film ist der wahre Fall einer Gruppe von Jugendlichen, die im schwedischen Göteborg Altersgenossen durch komplizierte “Rollenspiele” ausgeraubt haben. Das erschreckende dabei: Die Täter waren nur zwischen 12 und 14 Jahren alt. Anstatt jedoch Play dramaturgisch durch aufgesetzte Charakterisierungen und Handlungsstränge zu überladen, versetzt uns Ruben Östlund in die Position der Passanten. In einer Serie von Plansequenzen setzt er uns in eine Straßenbahn, stellt uns in den zweiten Stock eines Kaufhauses und an die Theke eines Cafés. Beispielhaft sei hier der herausragende Auftakt umrissen. In einer weiten Einstellung sehen wir das Innenleben eines Kaufhauses vor uns. Links unten am Bildrand steht eine Gruppe von Jugendlichen. Hier ein paar Mädchen, da Erwachsene und schließlich zwei Jungs, etwas jünger als die anderen, die vom obersten Stockwerk nach unten schlendern. Ein Zoom ins Bild lenkt unsere Aufmerksamkeit auf sie. Irgendwann kommen die anderen Jugendlichen dazu und das Spiel beginnt.

“Das iPhone meines Bruders sah genauso aus. Es wurde letzte Woche geklaut. Darf ich deines mal sehen?” Das ist die oberflächlich einfache Masche der Bande, die bevorzugt Jüngere ins Ziel nimmt. Daraus entwickelt sich schon bald das Spiel. Schließlich ist Play weniger eine Chronik krimineller Jugendlicher, sondern eine Analyse der Machtausübung. Es gibt einen guten und einen schlechten Cop in der Gang, es wird Sympathie mit den Opfern vorgegaukelt, die im selben Atemzug erniedrigt werden. Die Passanten gehen weiter. Was folgt ist eine Odyssee voller Eltern, die nicht ans Telefon gehen, Erwachsenen die ängstlich zu Boden schauen und Jugendlichen, die ihr perfide psychische Folter nur als Spiel ansehen. Ruben Östlunds Ansatz, den Film als Serie von minimalistischen Plansequenzen aufzubauen, mag schwer zugänglich sein. Die Konzentration auf das Wesentliche, die dem Film erst gegen Ende stellenweise abhanden kommt, belohnt mit einem durchdringenden Gefühl des Unwohlseins, nennen wir es: die Zeugenschaft.

Eine Diva packt harte Themen an
Was Ruben Östlund durch seinen strikten Formalismus gelingt, versucht Maïwenn Le Besco (hierzulande bekannt als blaue Sängerin in Das fünfte Element) in Poliezei durch eine klassisch realistische Inszenierung zu erreichen. Handkamera, Improvisationen, Episoden sind die Schlagwörter in ihrem betont authentischen Porträt der französischen Jugendschutzpolizei. Dabei vermischt die Regisseurin die Arbeit (Überführung von Pädophilen, jugendlichen Straftätern…) mit dem Privatleben der Polizisten, deren Abteilung nicht nur hinsichtlich der Budgets ein Schattendasein führt. Ihre eigene Recherche baut die französische Diva sogar in den Film ein, spielt sie doch eine Fotografin, welche die Arbeit der verschworenen Truppe dokumentieren soll. Leider bleibt Maïwenn als Darstellerin stets ein Fremdkörper. Sie ist schlicht überflüssig.

Anstatt den teils schrecklichen Geschichten das Schweinwerferlicht zu überlassen, verlegt sich Polisse allzu sehr auf Beziehungsprobleme, die nach 90 Minuten Laufzeit zwangsläufig redundant und – so hart es auch klingt – unwichtig erscheinen. Jener Ballast, den Ruben Östlund für Play aus seinem Film geworfen hat, wird Poliezei zum Verhängnis. Etwas mehr Distanz, eine verstärkte Beschränkung auf das wesentliche hätten hier vielleicht Wunder getan. Am Ende müssen wir nicht das Privatleben gesehen haben, diese allzu bekannten Szenen, in denen der eine dem anderen vorwirft, nur für seine Arbeit zu leben. Wer braucht solch vorhersehbare Klischees, wenn einem extrem natürliche Kinder- und Charakterdarsteller zu Verfügung stehen, wenn die Leugnung eines Pädophilen und die Reaktion des Sachbearbeiters aussagekräftig genug sind?

Nach dem Screening von Poliezei fand dann noch ein ausgesprochen langes Zuschauergespräch mit Maïwenn Le Besco statt, die semi-gelangweilt, aber höchst ausführlich alle Fragen beantwortete. Zu diesem Zeitpunkt schlief dann glücklicherweise auch die Dame neben mir ein, welche zuvor jede Szene des Films mit einem Wimmern kommentiert hatte.

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