Sage mir niemand, Altersfreigaben hätten keinen Nutzen. Vor einiger Zeit hatte die Schulklasse des älteren Kindes per demokratischer Abstimmung beschlossen, man wolle den Kino-Wandertag dazu nutzen, den in meiner Peergroup sehr schlecht beleumundeten Willkommen bei den Hartmanns anzusehen. Es war zum Verzweifeln - bis ich die Einstufung der FSK zu Gesicht bekam. "Ihr dürft den Film gar nicht ansehen", rief ich begeistert aus. "Ihr seid alle noch nicht zwölf!"
Wie wichtig mir diese Freigaben wirklich sind? Wenige Wochen später schaute die gleiche Klasse sich im Unterricht gemeinsam den großartigen Wo die wilden Menschen jagen (FSK 12) von Taika Waititi an - und ich hätte den Lehrer am liebsten für seinen Filmgeschmack umarmt.
Sind die Freigaben der Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) also ein großer Quatsch, dessen Nutzen nur darin besteht, dass sich so unerwünschte Machwerke von den Augen der eigenen Kinder fernhalten lassen? Ganz so einfach ist es, bei allen Fehlern der Freiwilligen Selbstkontrolle, natürlich nicht. Wir Eltern brauchen Orientierung, Leitplanken und Ratschläge bei der Frage, welche Filme und Fernsehserien unsere Kinder (schon) anschauen sollten. Denn der Idealfall ist eigentlich nicht erreichbar: Dass ich mir in Ruhe jeden Film selbst im Voraus ansehe und dann abwäge, ob er für mein Kind in diesem Moment seiner Entwicklung geeignet und passend ist. Wer hat dafür Zeit? Ich will ja auch ab und an mal schlafen!
Mehr: FSK - Index - Zensur: Ist das noch zeitgemäß?
Leitplanken also. Die FSK bietet sie in ihrer gröbsten und in nur bedingt hilfreicher Form. Für diese Mängel gibt es zwei Gründe: Zum einen ist die Einteilung in die FSK-Altersstufen von 0, 6, 12, 16 und 18 Jahren sehr grob und wird vor allem zwischen sechs und sechzehn Jahren dem Entwicklungstempo der Kinder kaum gerecht. Zum anderen entscheidet die FSK allein nach einer vermuteten Wirkung des Films auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern – diese darf nicht "beeinträchtigt" werden, so die Maßgabe des Jugendschutzgesetzes. Sie errichtet also Schutzbarrieren vor Filmen, die Kinder eines gewissen Alters verstören, verunsichern, aus der Bahn werfen könnten. So weit, so ehrenhaft.
Im Vergleich mit den Einstufungen, die in anderen Ländern vorgenommen werden, wird sofort klar, dass die Altersstufen dabei ebenso willkürlich sind wie die zugrunde liegenden Kriterien. In den USA geht es zu einem Gutteil um Augenschein von Gewalt und Sex sowie die schlichte Anzahl bestimmter Schimpfwörter, die britische Behörde urteilt in vielem noch der FSK am ähnlichsten und hat auch vergleichbare Alterseinstufungen, während im Kinoland Frankreich das Gros der Filme für alle Altersgruppen freigegeben wird - und "ab 12" eingestuft wird, was in Deutschland nur Erwachsene sehen dürfen.
Ich könnte Bände damit füllen zu beschreiben, welche Gründe es für diese unterschiedlichen Perspektiven gibt - ob Film zum Beispiel mehr als Unterhaltung oder mehr als Kunstform angesehen wird. In der Quintessenz läuft es darauf hinaus, dass zum Beispiel in Frankreich die Eltern selbst genauer hinsehen müssen. Aber machen wir uns nichts vor: Im Prinzip müssen sie das ja auch in Deutschland immer tun. Weder der heimische DVD-Player noch die üblichen Streaming-Dienste nehmen vor Filmstart eine Alterskontrolle aller Zuschauer und Zuschauerinnen vor, und besonders große Geschwister sind mächtige Verführer bzw. Verführerinnen.
Glücklicherweise gibt es einige Möglichkeiten, wie sich Eltern vorab informieren können, welche Filme für welches Alter geeignet sein können. Bessere Filmkritiken nehmen das bei Kinderfilmen auf jeden Fall wohl abgewogen mit in ihre Erörterung auf; es gibt darüber hinaus aber auch Online-Plattformen, die sich speziell dem Kinderfilm widmen und entsprechende, auch pädagogisch fundierte Einschätzungen geben:
- Die Kinderfilmwelt stellt aktuelle Kino- und DVD-Starts vor, bietet stets eine kurze Handlungsbeschreibung und Einordnung des Films an sowie - neben der FSK-Freigabe - auch stets eine Altersempfehlung als Richtschnur. Die vom Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrum (KJF) betreute Seite richtet sich in Aufmachung und Inhalten primär an Kinder selbst.
- Mehr für Eltern und vor allem Lehrer und Lehrerinnen gedacht ist hingegen das Kinofenster der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Die Plattform für Filmbildung bewertet und beschreibt nicht nur aktuelle Filme, sondern bietet auch regelmäßig Essays zu bestimmten Themen und pädagogisches Material zur Filmbildung etwa an Schulen.
Wir Eltern sind also mit den Einschätzungen dieser Plattformen in den meisten Fällen schon auf der sicheren Seite – und jedenfalls besser bedient als nur mit den Freigaben der FSK. Das ist ganz praktisch relevant: Ich habe schon mit zwei Grundschulkindern fluchtartig einen Kinderfilm verlassen, der ab 0 Jahren freigegeben war, weil den beiden jungen Zuschauern schon die Anfangsszene zu gruselig, nachgerade angsteinflößend war: Gewitter und Dunkelheit, bedrohliche Gestalten, Gefahr.
Zwei Jahre später wäre es, so empfahlen bei diesem Film die Pädagogen und Pädagoginnen, vielleicht anders ausgegangen. Eine Garantie darauf gibt es freilich nicht: Ein jeder Jeck, wie man in Köln sagt, ist anders, ein jedes Kind sowieso. Manche Kinder sind sensibler und reagieren auf bedrohliche Bilder und Szenarien mit Angst - später folgende Alpträume inklusive, das ist auch für die Eltern kein Spaß -, andere agieren ihre Aufregung zum Beispiel durch Bewegung im Kinosaal aus. (Ja, das sind Beispiele aus meinem eigenen Elterndasein.)
Darüber hinaus reagieren Kinder auch gleichen Alters ganz unterschiedlich, je nach Naturell, Vorerfahrungen und Zahl der Kinobesuche. Allein die Größe der Leinwand spielt schon eine wichtige Rolle - Kino ist eine ziemlich beeindruckende Kunstform, und manche Filme zielen ja gerade auf diese Überwältigung ab. Auf jeden Fall ist es da besser, sich mit Kindern erst langsam und vorzugsweise im sicheren, bekannten Zuhause an bewegte Bilder heranzutasten.
Dort haben wir Eltern außerdem die Möglichkeit, unseren Kindern während des Filmeschauens zuzusehen - das allein ist schon sehr spannend, aber eben auch lehrreich: Was mag sie gerne, worauf reagiert er mit Angst? Hier können wir Filme einfach stoppen oder wenigstens pausieren, können über die Bilder sprechen, über Inszenierung, Wirklichkeit und Fiktion. Hier können wir feststellen, wie viel das Kind schon versteht, wie viel es entweder ausblenden oder aushalten kann und will. Und ganz nebenbei können wir hier sogar einen Grundstock an Filmbildung legen, auf dessen Basis die Kinder später überhaupt verstehen, was da im Kino passiert. Spätestens mit Beginn der Pubertät lassen sie sich nämlich in ihre Filmauswahl nicht mehr reinreden: Dann beginnt das große Abenteuer Kino erst richtig.
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Rochus Wolff ist Vater und einiges andere, zudem Filmkritiker mit dem Schwerpunkt Kinderfilm. Auf seinem Kinderfilmblog sucht er nach dem schönen, wahren, guten Kinderkino - und bewertet Filme unter anderem danach, für welches Alter sie sich eignen.