Ich habe den versautesten Film des Jahres mit 500 Menschen gesehen und kann es nicht vergessen

20.12.2024 - 13:15 Uhr
The Visitor
Salzgeber
The Visitor
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Filmfestivals sorgen immer wieder für skurrile Erlebnisse. Ein besonders eindrückliches hatte ich 2024 mit einem zügellosen Erotik-Spektakel auf der Berlinale.

Mein denkwürdigstes Kinoerlebnis 2024 hat mit einer frivol-exzessiven Erotikkomödie zu tun. Der neue Film The Visitor des berüchtigten Underground- und Queer Cinema-Regisseurs Bruce LaBruce läuft selbst in einer Großstadt wie Berlin nur in einigen wenigen Programmkinos. So hätte ich ihn normalerweise wahrscheinlich mit zwei bis drei Menschen in einem winzigen Saal geschaut. Wegen der diesjährigen Berlinale kam aber alles anders.

Ein versauter Berlinale-Kinobesuch wie kein anderer

Die Berlinale nimmt selbst unter den größten Filmfestivals eine Sonderstellung ein. Neben akkreditierten Pressebesucher:innen gibt es hier auch öffentliche Vorstellungen mit regulären Ticketverkäufen. Das führt dazu, dass die gezeigten Filme selbst oft zweitrangig sind. So gut wie jedes Berlinale-Screening ist durch den Ruf und Stellenwert des Festivals automatisch ausverkauft.

So kam es am 18. Februar 2024 dazu, dass ich mich mit meinem Moviepilot-Presseausweis unter alle anderen Menschen einer The Visitor-Vorstellung mischte. Der Film wurde an diesem Datum im Berliner Cinestar Cubix am Alexanderplatz gezeigt, in Saal 9 mit 517 Plätzen.  Und praktisch jeder einzelne in diesem mit Abstand größten Saal des Kinos war an diesem Sonntag belegt.

Hier könnt ihr noch einen Trailer zu The Visitor schauen:

The Visitor - Trailer (Deutsch) HD
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In diesem Kinosaal schaue ich normalerweise Blockbuster wie John Wick: Kapitel 4, Ghostbusters: Frozen Empire und Gladiator II. Diesmal saß ich aber eingepfercht zwischen hunderten Leuten, die vermutlich genauso wenig wie ich wussten, was wir uns gleich ansehen würden.

In The Visitor überträgt Bruce LaBruce den Pasolini-Klassiker Teorema - Geometrie der Liebe ins London der Gegenwart. Hier strandet ein nackter Flüchtling an der Themse und landet schließlich im Anwesen einer wohlhabenden Familie, wo er einiges an (sexuellem) Chaos anrichtet.

Konkret bedeutet das, dass der Film zu geschätzt 65 Prozent aus Hardcore-Szenen besteht, in denen alle Figuren (teilweise auch Verwandte) kreuz und quer miteinander Sex haben. Durch in den grellsten Farben ausgeleuchtete Räume und plakativ eingeblendete Gesellschaftskritik ("Open Borders, Open Legs!") ist The Visitor einer dieser sogenannten "Kunstpornos". Nur lief dieser auf einer riesigen Multiplex-Leinwand vor 500 Menschen.

Filmfestivals sind eine eigene Parallelwelt

Schnell hatte ich mit The Visitor, der mit seiner queer-anarchischen Freude am puren Nonsense manchmal an John Waters-Filme erinnert, vor allem durch meine Umgebung extrem viel Spaß. Auch wenn die Zahl der vorzeitig den Kinosaal verlassenden Menschen nicht sehr hoch ausfiel, war die stumme Irritation ständig spürbar.

Um mich herum saßen das gutbürgerliche, intellektuelle Rentner-Ehepaar ebenso wie aufgekratzte Freundinnengruppen oder Männer mittleren Alters ohne Begleitung, die sich den gesamten Film über keinen Millimeter bewegten oder irgendeine Art von Regung zeigten – während in The Visitor gerade noch der Jesus-Dildo ausgepackt wurde.

Bruce LaBruces Film feiert die freie Entfaltung der puren Lust und sprengt sämtliche Körpernormen und Geschlechtsidentitäten für ein exzessives Feuerwerk aus Sex und Trieb. Gleichzeitig war The Visitor im Rahmen eines Filmfestivals wie der Berlinale selbst ein angenehm punkiger Querschläger.

Als der Regisseur persönlich zu Beginn des Abspanns für ein Q&A-Gespräch nach vorne kam, strömten die Menschen im Saal geradezu demonstrativ aus dem Kino. Vielleicht mussten sie sich schnell auf den Weg zum nächsten Berlinale-Film machen, vielleicht waren sie von dem Film einfach nur frustriert, verärgert oder genervt.

The Visitor hat gezeigt, wie Kino Zeit und Raum beeinflussen kann

Für die Dauer von gut 101 Minuten hat The Visitor diesen Multiplex-Kinosaal, der sonst für puren Eskapismus und kurzweilige Unterhaltung steht, in einen seltsamen neuen Ort verwandelt. Die skurrile Erotikkomödie hat vor allem ein generelles Gefühl von Gemeinsamkeit und Verbundenheit erzeugt, die so ansonsten niemals möglich gewesen wäre.

Sämtliche Menschen um mich herum und ich selbst, so unterschiedlich alle Anwesenden auch waren, wurden durch die Kombination aus Festival und Film zu einem bizarren Kinokörper verschmolzen.

Deshalb wundert es mich nicht, dass ich Monate später immer noch ab und zu an diese The Visitor-Vorstellung denke. Sie war wieder einmal der Beweis, dass ein Film im Kino nicht einfach nur ein Film im Kino ist. Sondern auch eine Erfahrung, die durch die Leinwand hindurch wirken und verblüffende Dinge vollbringen kann.

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