Ich, Jiri Menzel und meine süße, süße Heimat

16.11.2012 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Heimat, süße Heimat
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Jiri Menzels Portrait eines böhmischen Dorfes ist ein warmherziger Film über Freundschaft und Zusammenhalt. Zugleich gelingt dem oscarprämierten Regisseur eine präzise Studie der Tschechoslowakei wenige Jahre vor der Wende.

In einem kleinen böhmischen Dorf zu Zeiten der ehemaligen sozialistischen Tschechoslowakei wartet der geistig zurückgebliebene Otik, gespielt von János Bán, jeden Morgen voller Freude auf seinen ungleichen Arbeitskollegen, den kleinen, dicken Pávek, dargestellt von Marián Labuda, einem in seiner Heimat sehr bekannten Filmschauspieler. Die gesamte Dorfgemeinschaft kümmert sich um den naiven aber liebensweten Otik. Als er seinem väterlichen Freund Pávek aber irgendwann so sehr auf die Nerven geht, kommt es zu einem Streit mit fatalen Folgen. Otik beschließt, allein in die Großstadt Prag zu ziehen und ist von nun an im anonymen und lieblosen Plattenbau gefangen. Einige windige Prager haben es zudem auf sein kleines Häuschen abgesehen und wollen ihn enteignen. Die Dorfbewohner stehen ihrem Otik bei und wollen ihn daraufhin überreden, wieder in seine süße, süße Heimat zurückzukehren.

Heimat, süße Heimat ist ein typisch tschechischer Film, angesiedelt zwischen Komödie und Drama und voller Empathie für seine Figuren. Für Regisseur Jirí Menzel bedeutete der 1985 gedrehte Film die erste Nominierung für den Oscar seit seiner Auszeichning für Liebe nach Fahrplan im Jahr 1966.

Warum ich Heimat, süße Heimat mein Herz schenke
In den 1960er Jahren erlebte der tschechoslowakische Film dank der kurzzeitigen politischen Liberalisierung eine goldene Ära. Es entstanden Klassiker wie Die Liebe einer Blondine von Milos Forman oder Das Ohr von Karel Kachyna, eine Art tschechischer Vorläufer von Das Leben der Anderen. In Kritikerkreisen wurde von einer neuen tschechoslowakischen Welle gesprochen und schnell war der Vergleich zur französischen Nouvelle Vague um Jean-Luc Godard gezogen.

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Nach dem Einmarsch der Sowjetischen Truppen und der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings setzte in der Tschechoslowakei die sogenannte “Normalisation” ein und kritische Filme wurden wieder verboten. Milos Forman floh in die USA und wurde spätestens mit Einer flog über das Kuckucksnest zum Starregisseur, andere blieben daheim und wurden mit Berufsverboten belegt. So auch Jiri Menzel, der für 5 Jahre komplett von der Bildfläche verschwinden musste und erst nach und nach mit seichteren Filmen wieder reüssieren konnte. Die berühmten Märchenfilme aus den 70er und 80er Jahren sind zwar äußerst gelungen, waren aber als unverfängliche Feel-Good Filme für kritische Künstler oft nur eine ungeliebte Möglichkeit, überhaupt zu arbeiten. Erst nach der Wende 1989 erlebte der tschechische Film wieder einen Aufstieg, international geadelt durch den Oscar für Kolya.

Heimat, süße Heimat ist einer der wenigen Filme aus den grauen tschechoslowakischen 80ern, die sowohl mit früheren als auch mit heutigen Glanzpunkten des tschechischen Kinos mithalten können. Es freut mich besonders für Jiri Menzel, dass er bereits vier Jahre vor der Wende wieder zu alter Form gefunden hat und ihm zugleich eine treffende Studie einer zu wenig porträtierten Zeit gelungen ist. Da meine Mutter aus dem böhmischen Städtchen Pisek stammt, habe ich das Glück, nicht nur die tschechische Sprache zu sprechen, sondern habe auch viel Zeit als Kind bei meiner tschechischen Familie verbracht. Die Landschaften, Menschen und Orte des Films sind mir daher alle vertraut und als in Pisek Heimat, süße Heimat im Kino lief, war ich als kleiner Junge dabei. Jiri Menzels Film ist somit auch eine der ersten Kinoerfahrungen meines Lebens.

Warum auch andere Heimat, süße Heimat lieben werden
Für das gänzliche Verständnis des Films ist es zwar hilfreich, mit der böhmischen Lebensart vertraut zu sein und auch eine kleine Vorstellung von den damaligen politischen Verhältnissen zu haben, die Schönheit des Films kann sich meiner Meinung nach aber jedem Zuschauer erschließen. Südböhmen ist nunmal ein traumhaftes Fleckchen Erde, besonders wenn es so elegisch eingefangen wird wie von Kameramann Jaromír Šofr. Die Figuren sind alle liebevoll gezeichnet und dabei lebensnah und überzeugend gespielt. Besonders erwähnt sei hier der verträumte alte Landarzt, der regelmäßig mit seinem neuen Auto im Graben landet. Der legendäre tschechische Schauspieler Rudolf Hrusínský, den in Tschechien jeder als Der Brave Soldat Schwejk in Prag kennt, glänzt hier in einer seiner letzten Rollen.

Die universal gültige humanistische Botschaft von Gemeinschaft und Zugehörigkeit zieht sich durch den ganzen Film und wirkt dank schrulliger Elemente wie den besonders lustig inszenierten Kneipenszenen und passendem dörflichem Lokalkolorit nicht kitschig, sondern wahrhaftig. Heimat, süße Heimat ist sowohl ein unterhaltsames Porträt manchmal sonderbar erscheinender Dorfbewohner als auch Außenseiterballade und ein Plädoyer gegen die Einsamkeit anonymer Großstadtsiedlungen.

Leider nicht so einfach bei uns auf DVD zu kaufen, kann vielleicht die ein oder andere Arthaus-Videothek Abhilfe schaffen. Auch wenn die Suche nach diesem Film vielleicht etwas dauern mag, es lohnt sich.

Kennt ihr tschechische Filme außerhalb der bekannten Märchen?

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