Provokation & Bildung in Erwin Wagenhofers Dokus

30.10.2013 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
Alphabet
Pandora Film Verleih
Alphabet
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Mit seiner neuen Dokumentation Alphabet schließt der Österreicher Erwin Wagenhofer seine moralisch erhabene Trilogie rund um Globalisierung, Kapitalismus und Bildung mit einem provokanten Beitrag ab. Muss sich unsere Gesellschaft grundlegend ändern?

“98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch zwei Prozent”, stellt Erwin Wagenhofer in seinem neuen Film Alphabet provokant in den Raum. Nach seinen beiden stilistisch prägnanten Dokumentation We Feed the World – Essen global und Let’s Make Money erfolgt mit dieser Ansage der Abschluss einer Trilogie. Wagenhofer, der moralische Zeigefinger Österrichs, fragt in seinen drei provokativen Dokumentationen nach der Globalisierung von Nahrung, den Machenschaften der Finanzwelt und wie es dazu kommen kann, dass die klügsten Köpfe der Welt unsere Gesellschaft stets in neue Krisen führen.

Das ABC unserer Bildung
Unser leistungsorientiertes Bildungssystem ist der Dreh- und Angelpunkt von Alphabet. Das ABC ist ein System von Buchstaben, das jedes Kind früher oder später erlernt und dient hier als Synonym für die unumstößliche Norm unserer schulischen Wissens-Entwicklung. Schule zerstöre Kreativität und anstatt eine Lösungsvielfalt zu präsentieren, würde sie eine Antwort pro Frage tolerieren, sind sich die Protagonisten der Dokumentation sicher. Dieser Leistungsfetisch unserer Wettbewerbsgesellschaft sei das Maß aller Dinge geworden.

Technokratische Lernziele und fehlerfreies Wiedergeben von Inhalten bestimmen den Alltag eines Großteils aller Kinder und dass dies zwar zu umfangreichem Wissen, aber nicht zur umfangreichen Anwendung von Wissen führt, stellt hierbei das zentrale Problem dar. Kinder könnten ihre naturgegebenen Talente nicht entwickeln, da der Entwicklungspfad immer schon vorgeschrieben sei. Zu groß ist die Angst vorm Scheitern, um Neues auszuprobieren. Bei Erwin Wagenhofer prangt nicht die Frage nach dem Wissensinhalt, sondern die Frage nach dem Wissenserwerb über seiner neuen Dokumentation. Diese Angst vor dem Scheitern ist in unserer Gesellschaft, in der vielen Menschen die Zukunft und zahlreiche Möglichkeiten offen stehen, zu einem nicht zu unterschätzenden Luxusproblem geworden.

Makabere Subjektivität in We Feed the World
Zur aufklärerischen Intention von Wagenhofers Doku-Trilogie gesellt sich eine starke Subjektivität, deren Stilmittel erst einmal enttarnt werden müssen. We Feed the World war der erste Teil seiner eindrücklichen Reihe. Kritische Anmerkungen zur Globalisierung und zu genmanipuliertem Essen gehen Hand in Hand mit Weckrufen bezüglich der Hungersnot und der schlechten Nahrungsmittelversorgung in den ärmeren Ländern der Welt. Wagenhofer entnimmt stichprobenartige Gegensätze, um uns annähernd einen Überblick zu gewähren und die Absurdität von Tatsachenbeständen vor Augen zu führen.

Ruhige, lange Einstellungen zur Hungersnot in Brasilien und anschließend der schnellgeschnittene Weg des tonnenweise aus Brasilien importierten Sojas zur Verfütterung an österreichischen Tiere, sind ein klares Statement des Filmemachers. Die Gegenüberstellung wird hier ersichtlich und entlockt uns als Zusehern Scham und Mitleid im Angesicht unseres Wohlstandes. Als letzte wirksame Bilderreihe sehen wir einen Hühnermastbetrieb mit langen Einstellungen auf die hilfsbedürftigen Kücken und der anschließenden, automatisierten Schlachtung der ausgewachsenen Hühner.

Es folgt ein langsamer Ausklang mit Wagenhofers Landsmann, dem Österreicher Peter Brabeck, Konzernchef des Nahrungsherstellungs-Ungetüms Nestlé und dem Subtext des Filmes nach der rücksichtslose Kapitalismus schlechthin. Seine Aussagen stehen als Gegensatz zu den ganzen bisher gezeigten Bildern der Ungerechtigkeit. Die Tatsache, dass Wagenhofer ihn nicht parodistisch darstellt, sondern in langen Einstellungen seine Meinung darlegen lässt, soll dem Zuseher die makabere Resourcen- und Warenverteilung auf der Welt zu erkennen lassen.

Warum sind wir so unglücklich?
„Warum geraten Kulturen und Gesellschaften, die sich als hoch entwickelt sehen, in den Strudel von gewaltigen Krisen? Warum sind wir so unglücklich, obwohl wir scheinbar alles haben“, fragt Erwin Wagenhofer in seinem eigenen Statement zu Alphabet. Auf der Suche nach dem Ursprung von Existenzängsten in reichen Ländern versucht der 52-Jährige in dieser Doku die Grundpfeiler unserer Bildung zu untergraben. Wissenschaftler und auch Laien kommen zu Wort.

„Denn das Neue ist nicht die Fortschreibung des Alten, wie uns die Geschichte lehrt“, postuliert Wagenhofer in seiner radikalen Dokumentation, die völlig neue Denkansätze präsentieren will. Was die Präsentation seiner Fakten betrifft, kehrt er jedoch wieder in sein altbekanntes Schema der Aneinanderreihung von langen Einstellungen und prägnanten Interviews zurück, die ein äußerst subjektives Bild seiner progressiven Auffassung vermitteln und einmal mehr beweisen, wie wichtig Meinungsvielfalt ist.

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