Michael Hanekes Statement, dass es keine Wahrheit gebe, da diese vom Standpunkt abhinge, trifft vielleicht auf keinen Film in größerem Umfang zu, als auf Rashomon – Das Lustwäldchen von Akira Kurosawa, einen der ungewöhnlichsten und beeindruckendsten Filme der Geschichte. Die letzte Szene macht die Äußerung Hanekes (Caché, Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte) am deutlichsten: drei Männer finden in einer Ecke des halb verfallenen Tempels Rashomon ein kleines Baby in Laken gehüllt. Einer der Männer nimmt die Laken an sich, woraufhin er von einem anderen Mann stark kritisiert und als Dieb beschimpft wird. Doch der Dieb rechtfertigt sich: später hätte irgendjemand sonst diesen Kimono genommen, warum sollte er ihn nicht also jetzt nehmen, wo das Baby ihn ohnehin noch nicht tragen könne? Ist dieser Mann, der die Laken an sich genommen hat ein Dieb oder nicht? Ist seine Tat zu rechtfertigen oder muss er dafür verurteilt werden? Für ihn ist es rechtens, seine Argumentation ist – zumindest für ihn selbst – schlüssig. Der Andere jedoch kontert, dass es nicht sein Eigentum sei und er seine Finger davon zu lassen habe.
Wer von beiden hat nun Recht? Was können wir glauben, was können wir wissen? Nur eines: dass wir nichts mit Sicherheit sagen können, was nun hinter diesem Film steckt, was reell und was falsch ist. Rashomon – Das Lustwäldchen ist kniffelig, verschachtelt und komplex, voller loser Enden, die dem Zuschauer vor die Füße geworfen werden, damit er daraus etwas Schönes mache. Kurosawa gibt sich nicht die Mühe, all das aufzulösen, was es aufzulösen gilt. Warum auch? Wozu sollte es dienen? Der Wahrheit? Welche dieser Geschichten, die dem Zuschauer über Toshirô Mifune als Entführer und Vergewaltiger im ‚Lustwäldchen‘ erzählt werden, ist die Wahrheit? Stimmt überhaupt irgendeine davon oder ist alles erlogen? Ist die Wahrheit eine Mischung aus all diesen Geschichten, die man vor dem Gericht erzählt? Ein Gericht, das man nie sieht, eine Polizei, die nie auf dem Bildschirm erscheint, denn der Zuschauer selbst ist das Gericht, nur er wird unmittelbar angesprochen und muss entscheiden, was rechtens ist und was nicht.
Der Film ist ein unmittelbares Medium, das weniger Fantasie erlaubt als ein Buch oder ein Radiostück. Der Film ist visuell. Der Zuschauer bekommt bewegte Bilder vorgesetzt, die ihm als Wahrheit verkauft werden und der Zuschauer muss dies so hinnehmen, er hinterfragt in den meisten Fällen nicht, da sein Vorstellungsvermögen nicht derart angeregt ist wie bei einem Buch oder im Radio, denn die Bilder sind direkt vor ihm, alles was man sieht, ist tatsächlich da. Hier jedoch ist Skepsis angebracht. Nicht alles, was einem als Zuschauer vorgesetzt wird, ist richtig. Der Film kann als Mittel zu Propagandazwecken missbraucht werden, hier bei Kurosawa wird er zum Mittel für Täuschung und Realitätshinterfragung. Diese Hinterfragung ermöglicht, dass ein jeder Zuschauer, den man nach Sichtung des Films fragt, was er gesehen habe bzw. worum es in dem Werk gehe, eine andere Antwort erwidert.
Rashomon – Das Lustwäldchen erlaubt das wie nur wenige Filme und darin liegt, laut Regisseur Robert Altman, die Qualität dieses einzigartigen Werkes, das durch diese Eigenschaft die ganze Kunst des Mediums in sich vereint. In unendlicher Bildgewalt bekommt man eine Version dieser sagenumwobenen Geschichte erzählt, doch wir hören die Erzählungen oft nicht, sondern sehen sie nur in Bildern auf Zelluloid gebannt und müssen uns fragen, ob dies der eigentliche Tathergang ist oder lediglich eine Variation der Geschichte, wie der Erzähler sie sieht oder eine Erfindung des Erzählers, der sich einige Freiheiten mit seinem angeblichen Erlebnis erlaubt. Alles ist Lüge oder alles ist Wahrheit. „Es interessiert mich nicht, ob es eine Lüge ist, solange es unterhaltsam ist“, sagt eine Person in Rashomon – Das Lustwäldchen. Diese Aussage spricht für sich und für vieles mehr.
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