Der Fluch der Videospielverfilmungen ist lange gebrochen, dafür genügt bereits ein Blick auf die glühende Lobhudelei für die The Last of Us-Adaption. Auch die Serie von Craig Mazin und Neil Druckmann arbeitet sich an der Ästhetik der beiden Spiele ab. Sie taumelt mit einem gewissen Unbehagen zwischen der Reproduktion und Adaption der heiß geliebten Vorlagen. Das Gefühl, ein Spiel zu spielen, erreicht die Serie selten, was auch an ihrer Verantwortung liegen dürfte, die Story einer klassischen Prestigeserie zu erzählen.
Bei der Videospieladaption The Exit 8, die beim Festival in Cannes gezeigt wurde, sieht das anders aus. In dem Horrorfilm kann ein falsch sitzender Türknauf Angstzustände auslösen, als hätte man selbst gerade einen folgenschweren Fehler am Controller gemacht. Das Konzept des surrealen Horrorfilms zieht das Publikum am Kragen hinein in ein albtraumhaftes Labyrinth.
Stell dir vor, du gehst in die U-Bahn, aber der Weg nach draußen verschwindet
Bei TikTok gibt es eine ganze Reihe von Accounts, mit denen Einheimische ihren Arbeitsalltag in Japan teilen. Einige haben sich der Selbstoptimierung verschrieben (5-Uhr-Weckruf und dann ab ins Fitnessstudio). Andere inszenieren ihren Alltag als deprimierte Arbeitsdrohne im 90-sekündigen Kreislauf aus Rolltreppen, Tunneln, Zügen und weiteren Rolltreppen. Der namenlose Protagonist (Kazunari Ninomiya) aus The Exit 8 gehört am ehesten zur zweiten Fraktion, auch wenn wir wenig über ihn erfahren.
An diesem Tag fährt er zu seinem Aushilfsjob. In der U-Bahn beschimpft ein Fahrgast eine Frau, weil ihr Baby schreit, aber der Namenlose schiebt sich schnell wieder seinen Bluetooth-Hörer ins Ohr und wendet sich ab. Nach einem wichtigen Anruf seiner Ex-Freundin geht er wie jeden Tag durch die weißen Fußgängertunnel, nur will diesmal der Ausgang nicht erscheinen. Stattdessen passiert er mehrmals dieselben Poster und Fotoautomaten. Hier beginnt das "Spiel". Der bemitleidenswerte Kerl hat sich in ein rätselhaftes Labyrinth verlaufen. Die Regeln stehen auf einer Tafel:
Bitte übersehen Sie nichts Ungewöhnliches. Wenn Sie eine Anomalie entdecken, kehren Sie sofort um. Wenn nicht, fahren Sie fort. Gehen sie dann über Ausgang 8 heraus.
Liest sich einfach, ist es aber nicht. Denn wenn man sich nicht genau einprägt, wie die Gänge und Gegenstände in dem teuflisch kleinen Labyrinth aussehen, dann übersieht man womöglich eine "Anomalie". Dabei kann es sich um den erwähnten, falsch sitzenden Türknauf handeln, um einen Mann mit dem gruseligsten Lächeln seit Smile 2 oder aber um ein paar Rattenzüchtungen mit Glubschaugen auf dem Rücken. Wobei ich persönlich letztere eher in der Berliner U-Bahn erwarten würde. Läuft man in The Exit 8 an der Anomalie vorbei, wird der ganze Spielfortschritt negiert und man beginnt wieder von vorne.
Der Horrorfilm kommt ganz nah ans Gaming-Gefühl heran
Die Videospielidee, die 2023 erstmals über Steam gezockt werden konnte, wird mit ein paar Abweichungen auf den Film übertragen. Damit verwandelt sich der Fortschrittsgedanke des Games in den dramatischen Motor des Films. Es ist ein genialer Kniff, der die japanische Verfilmung von einigen Genregenossen abhebt.
Der konventionelle Gestus einer Videospieladaption ist der Fokus auf eine traditionelle Erzählung und die muss voranschreiten. Deswegen vollzieht Tom Holland in Uncharted seine Action-Szenen wie in jedem anderen Abenteuerfilm. Uncharted fühlt sich nicht wie ein Spiel, sondern wie eine gigantische Cutscene an – oder eben wie ein Film. Was nachvollziehbar ist. Wer will Holland schon dabei zuschauen, wie er zigmal an einem Berg herumklettert, zum nächsten Vorsprung hüpft und in den Tod stürzt?
The Exit 8 kommt hingegen ganz nah ran an die nagende Apathie, wenn man wieder und wieder an einem Level verzweifelt. In der Zuschauerposition schaut man zudem aktiv nach Hinweisen auf Anomalien oder schlägt frustriert die Hände über den Kopf zusammen, wenn der Namenlose sie übersieht. Gefördert wird die Immersion durch die entschlackte Inszenierung von Genki Kawamura (A Hundred Flowers) und das ebenfalls minimalistische Szenenbild: simpel genug, um sich alles zu merken und komplex genug, um etwas zu übersehen.
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Der Frust gehört in The Exit 8 dazu
Das Konzept bringt den ein oder anderen Nachteil mit sich, da die Frustration über die Fehler der Figur(en) überhandnehmen kann. Stellenweise wird der Minimalismus zugunsten von CGI-Effekten und Jump-Scares fallengelassen, was wiederum aus dem Game-Gefühl herausreißt.
Zumeist beschränkt sich The Exit 8 bei seinem Grusel jedoch auf sparsam komponierte Alltagsbilder, die sich sofort einbrennen. Ein leblos grinsender Geschäftsmann oder ein Junge, der verloren mitten auf dem Gang sitzt. Sind sie Anomalien oder nicht? Schau ganz genau hin! Das will man dem namenlosen Helden in der starken Videospieladaption zurufen – damit er sich und uns Leid erspart.
Wir haben The Exit 8 bei den Filmfestspielen in Cannes gesehen, wo er in den Midnight Screenings läuft. Einen deutschen Kinostart hat der Horrorfilm noch nicht.