Was ist gruseliger: Einem hungrigen Tyrannosaurus rex gegenüberzustehen? Oder einer Meute internationaler Kritiker:innen dein Regiedebüt vorzustellen, die gerade durch einen Regensturm ins Kino gehastet sind? Scarlett Johansson hat beides erlebt. Im Sommer startet ihr Blockbuster Jurassic World 4: Die Wiedergeburt und diese Woche hat sie bei den Filmfestspielen in Cannes ihren ersten eigenen Spielfilm präsentiert.
Die Tragikomödie Eleanor the Great hält zwar keine gefletschten T.-rex-Zähne bereit, aber dafür die scharfe Zunge der mittlerweile 95-jährigen Schauspielveteranin June Squibb. Wie schlägt sich Scarlett Johansson in ihrem neuen Beruf?
Eleanor the Great passt ein bisschen zu gut in Scarlett Johanssons Filmografie
Seit Beginn ihrer Avengers-Karriere hat Scarlett Johansson sich nur selten von vertrauten filmischen Pfaden entfernt, was eher eine Feststellung ist als eine Kritik. Filme wie der Sci-Fi-Gehirnschmelzer Lucy haben genauso eine Existenzberechtigung wie die bewusstseinserweiternde Alien-Invasion Under the Skin von The Zone of Interest-Regisseur Jonathan Glazer.
Johanssons Rollenwahl bewegte sich in der letzten Dekade im sicheren Gehege des US-Kinos. Ihre wagemutigsten Filmprojekte waren Jojo Rabbit und die Arbeiten mit Wes Anderson. Das verdient ebenfalls Respekt, denn Johanssons Karriere ist die eines Kinostars vom alten Schlag, mit einer Mischung aus Blockbustern und Prestige für die Awards Season. Weit und breit keine Serie zu sehen.
Von der Schauspielfilmografie lässt sich das Regiedebüt vielleicht nicht vorhersagen, aber im Nachhinein ableiten. Kristen Stewart zum Beispiel hat zwischen ihren Franchise-Ausflügen überwiegend in amerikanischen Independent- und europäischen Filmen mitgespielt. Häufig basierten sie auf wahren Begebenheiten. Da verwundert es nicht, dass ihr Regiedebüt The Chronology of Water die Memoiren einer Schriftstellerin adaptiert. Scarlett Johanssons Themenwahl navigiert stattdessen Richtung übertrieben sentimentaler Unterhaltung für die Oscar-Wählerschaft und das kommt ebenso wenig überraschend. Leider.
In der Tragikomödie von Scarlett Johansson baut June Squibb ein Lügengebäude auf
Als Stoff für ihr Regiedebüt hat sich Scarlett Johansson ein Drehbuch von Tory Kamen über zwei Frauenfreundschaften ausgesucht. Die erste ist jene zwischen Eleanor (Squibb) und ihrer ältesten Freundin Bessie (Rita Zohar). Während Eleanor in den USA geboren wurde, stammt Bessie ursprünglich aus Polen und verlor ihre Familie während des Holocausts. Die beiden betagten jüdischen Damen leben in Florida, sticheln die Aushilfskräfte im Supermarkt mit ihren spitzen Bemerkungen und teilen sich eine Wohnung. Bis Bessie stirbt.
Eleanor zieht daraufhin zurück zu ihrer viel beschäftigten Tochter in New York City. Auf der Suche nach neuen Freundinnen und einem Quäntchen Aufmerksamkeit landet sie zufällig bei einer Selbsthilfegruppe von Holocaust-Opfern. Dort gibt sie Bessies Erinnerungen als die ihre aus. Auftritt: Freundin Nummer 2. Die junge Studentin Nina (Erin Kellyman), die kürzlich ihre Mutter verloren hat, will eine Reportage über die "Holocaust-Überlebende" Eleanor schreiben. Über ihre Verlusterfahrungen freunden sich die beiden an. Eleanors fragwürdige Performance gerät damit früher oder später auf den Prüfstand.
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Eleanor the Great verläuft sich in großen Ansprachen und konstruiertem Drama
Die Ausgangssituation bietet Stoff für ein faszinierendes Psychogramm oder zumindest für eine schwarze Komödie. In Eleanor the Great wird daraus eine rührselige Dramödie gebastelt, die unter einer viel zu überfrachteten Story leidet. Eleanors Freundschaft mit der verstorbenen Bessie geht dank der beiden Schauspielveteraninnen ans Herz und ihre schnippischen Kommentare massieren die Lachmuskeln.
Die Geschichte um Nina, ihren TV-Moderator-Papa (Chiwetel Ejiofor) und dessen verstorbene Frau wird dem aufgepfropft, um in tränenreichen Monologen ein paar Weisheiten über Trauerarbeit loszuwerden. Das ganze Konstrukt wirkt dermaßen gewollt, dass es dem Film gegen Ende jedes Leben aussaugt. Dann wechselt Eleanor the Great in einen mechanischen Erzählmodus, der im Autopilot auf seine absehbare Auflösung zufährt.
Das Drehbuch ist also eines der Probleme, die Regie gehört aber auch dazu. Es imponiert, dass sich Johansson so einen kleinen, unspektakulären Stoff für ihr Spielfilmdebüt als Regisseurin ausgewählt hat. Noch dazu hat sie eine Hauptdarstellerin in einem Alter, das in Hollywood normalerweise für skurrile Nebenrollen herhält. Andererseits gerät die Schauspielführung an ihre Grenzen, wenn June Squibb einfach jeden Satz wie einen Gag an den Kopf des Gegenübers schmettert. Das Timing der Pointen wirkt hölzern, ihr Einsatz vorhersehbar und im Finale zerfasert der Film dann vollends.
Eleanor the Great ist also alles andere als großartig. Hoffen wir, dass Johansson mit Dinosauriern besser umgehen kann.
Wir haben Eleanor the Great bei den Filmfestspielen in Cannes gesehen, wo das Regiedebüt von Scarlett Johansson in der Sektion Un Certain Regard gezeigt wurde. Einen deutschen Kinostart hat der Film noch nicht.