Es gibt gewisse Captain-Klischees im Star Trek-Universum: James T. Kirk aus Raumschiff Enterprise war ein impulsiver Aufschneider und Jean-Luc Picard aus Raumschiff Enterprise: Das nächste Jahrhundert ganz im Gegensatz dazu ein stoischer, bedachter Diplomat durch und durch. Beides stimmt nicht.
William Shatners Originalserien-Kirk war eine viel komplexere Figur, als spätere Interpretationen ihm zugestehen. Vor allem aber brach Patrick Stewart mit den Sci-Fi-Klischees vom lediglich kompetenten Anführer. So brachte er furchtlose Emotionen mit auf die Enterprise-D, an die wir zum 85. Geburtstag des Schauspielers gern einmal erinnern wollen.
Vom Shakespeare-Schauspieler zum Star Trek-Fanliebling
Patrick Stewart wurde am 13. Juli 1940 im nördlichen England geboren und schloss sich in den 60er Jahren der Royal Shakespeare Company an, der er bis heute angehört. Entsprechend stand er für unzählige Rollen aus Stücken des legendären Barden auf der Bühne und vor der Kamera – etwa 1970 in Ein Sommernachtstraum auf dem Broadway oder 2010 im TV-Film MacBeth. Seine erste TV-Rolle absolvierte er 1967 als Feuerwehrmann in einer Folge der Lindenstraßen-Vorlage Coronation Street. Ein Ausschnitt, der beweist, dass Stewart sich in all den Jahren wirklich kaum verändert hat:
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Als es Patrick Stewart in den 80er Jahren für die Star Trek-Neuauflage nach Kalifornien verschlug, soll er berüchtigterweise wochenlang nicht mal seine Koffer ausgepackt haben. So wenig Vertrauen hatte er in das Sci-Fi-Projekt. Auch clashte seine disziplinierte Arbeitsweise mit der zum Teil ausgelassenen Stimmung am Set, was er Jahre später auf Star Trek-Conventions inmitten seiner längst ins Herz geschlossenen US-Kolleg:innen gestand.
Die ersten beiden Staffeln von Raumschiff Enterprise: Das nächste Jahrhundert zeichnen Captain Picard tatsächlich ziemlich unterkühlt. Es gibt zwar leidenschaftliche Plädoyers (wie für Datas Rechte) oder ein Flimmern von Verzweiflung (wie bei Tashas Tod), aber so richtig entfesselt wurde Stewarts Shakespeare-erprobtes Können erst mit Staffel 3 von Das nächste Jahrhundert. Jene Season, von der die meisten behaupten, die Serie starte so richtig durch.
Patrick Stewart brachte große Emotionen auf die Enterprise
Eine Szene, auf die gern verwiesen wird, um Stewarts Talent im Bereich der großen Gefühle aufzuzeigen, stammt aus der Folge Botschafter Sarek aus Staffel 3. In dieser kommt Spocks vulkanischer Vater (Mark Lenard) auf diplomatischer Mission auf die USS Enterprise und kämpft mit emotionalen Anfällen, die er zu unterdrücken versucht.
Picard bietet an, sich diese per Gedankenverschmelzung aufzuhalsen, damit der Botschafter sich auf seine Arbeit konzentrieren kann. Dabei wird der Captain absolut überwältigt vom Gefühlsschwall, mit dem Vulkanier:innen stets einen inneren Kampf austragen. Stewart hält sich hier kein bisschen zurück und lässt seinen Charakter große Stärke durch noch größere Verletzlichkeit beweisen.
Zu Beginn der 4. Staffel stattet Jean-Luc seinem entfremdeten Bruder Robert (Jeremy Kemp) auf der Erde einen Besuch ab. In der Folge namens Familienbegegnung kochen alte Animositäten zwischen den unterschiedlichen Geschwistern hoch, die in einer körperlichen Auseinandersetzung enden. Dabei bricht der Captain der Enterprise schließlich zusammen, während er seinem Bruder berichtet, wie traumatisch die Assimilation durch die Borg gewesen ist. Wie es war, seiner Identität und seiner Menschlichkeit beraubt zu werden. Eine rohe Versöhnungsszene, die unter die Haut geht, während sie uns Picard in einem ganz anderen Kontext zeigt.
In der 5. Staffel verbringt Picard in Das zweite Leben eine ganze alternative Existenz. Er erwacht in einem Dorf auf einem fremden Planeten, wo er als Kamin mit seiner Frau Eline (Margot Rose) und zwei Kindern lebt, während man sich bewusst wird, dass diese Welt dem Untergang geweiht ist.
Am Ende von Kamins Lebensspanne offenbart sich der Ursprung dieser sich lang anfühlenden Illusion: Eine Sonde der längst untergegangenen Zivilisation sendete ein Signal, um Erinnerungen an diesen Ort am Leben zu halten. Auf der Enterprise sind in Wirklichkeit nur wenige Momente vergangen. Am Ende der Folge merken wir aber, dass diese Erfahrung nicht spurlos an Jean-Luc vorbeigegangen ist. Für viele ein Highlight der gesamten Serie, auch durch Stewarts starkes Spiel.
Noch intensiver wird es im Zweiteiler Geheime Mission auf Celtris Drei aus Staffel 6. In diesem wird der Captain von den Cardassianern gefangengenommen und unter Drogen gesetzt, um an die Verteidigungspläne eines Föderationsplaneten zu gelangen.
Ein wahrlich unangenehm anzusehendes Kammerspiel zwischen einem malträtierten Picard und dem skrupellosen Verhörspezialisten Gul Madred (der häufige wie hervorragende Gaststar David Warner). Dies würde man so eher in einem Weltkriegsdrama erwarten und genauso spielt Stewart es auch. Unvergessen bleibt die Frage nach der Anzahl der vier Lichter im Raum, die Picard mit "fünf" beantworten soll. Ungebrochen schreit er am Ende jedoch: "Da sind vier Lichter!" – als stünde Stewart auf der Bühne und projiziere, um auch noch die letzte Sitzreihe zu erreichen.
Ungeheuer mutig und roh startet auch der erste Kinofilm der zweiten Crew des Franchise. In Star Trek VII - Treffen der Generationen wird Picard gleich zu Beginn während einer Beförderungsfeier kontaktiert, um ihn vom Tod seines Bruders und seines Neffen zu unterrichten. Beide starben während eines verheerenden Feuers auf der Erde. Die empathische Counselor Troi (Marina Sirtis) bemerkt die Aufgewühltheit ihres Captains und konfrontiert ihn. Dabei verdrückt Stewart nicht nur eine würdevolle Träne, als er sich an seinen Serienneffen erinnert, sondern erlaubt es sich, in einen authentischen ugly-cry zu schalten. Das hätte sich an dieser Stelle auf der großen Kinoleinwand nicht jeder getraut.
Der "kompetente Mann" aus Robert A. Heinleins Sci-Fi-Romanen, von denen man damals noch viel in Star Trek spürt, musste über verschiedene Fähigkeiten verfügen. Stewarts Enterprise-Captain erweiterte diese Kompetenz um eine emotionale Intelligenz und Gefühlsbreite, die im Hard-Science-Weltraumabenteuer bis dahin oft zu kurz kam.
Noch mehr Star Trek:
Der Vielseitige: Mehr als nur Captain Picard und Professor X
Über ein viertel Jahrhundert später kehrte Patrick Stewart für die polarisierende Serie Star Trek: Picard zurück, die so verschwenderisch mit Emotionalisierung umgeht, dass es sich nicht mehr so bedeutsam anfühlt, wie in den großen Momenten von Das nächste Jahrhundert. Die Filmografie des rüstigen Briten hat aber so viel mehr zu bieten, als Star Trek – und damit sind nicht seine Rollen als Professor X oder Kaka-Emoji gemeint. Vielmehr bewies er durch seine vielfältigen Rollen jene Stärke, die auch Captain Picard an den Tag legte: Stärke durch Flexibilität, wie ein Ast im Wind. Gefestigt und bestimmend, aber auch verletzlich und gefühlvoll sein zu können, wenn es darauf ankommt.
Mitte der 90er spielte Stewart etwa den äußerst flamboyanten Sterling in der schwulen RomCom Jeffrey von Christopher Ashley. Eine komödiantische Rolle voller Elan, die ganz plötzlich ernst wird, als sein Partner an AIDS verstirbt. Eine ungewohnt gefährliche Seite zeigte er uns vor zehn Jahren in Jeremy Saulniers Thriller Green Room, wo er als Skinhead-Anführer Darcy Banker einschüchterte. Jedoch nicht nur durch rohe Gewalt.
Aber auch im Serienbereich gibt es noch einiges zu entdecken. Wie hervorragend Stewart als Captain Ahab in der Miniserie Moby Dick besetzt war, könnt ihr euch vermutlich vorstellen. Und wer ein frühes TV-Highlight mit ihm sehen möchte, muss sich das kultige Rom-Drama Ich, Claudius, Kaiser und Gott mit Stewart als Seianus ansehen.
Mit 85 Jahren ist Patrick Stewart aber immer noch nicht am Ende seiner umfangreichen Karriere angelangt. Kommendes Jahr wird er erneut neben seinem langjährigen Freund und Kollegen Ian McKellen in Avengers 5: Doomsday zu sehen sein. Was danach auf ihn zukommt, steht noch in den Sternen.