Es hat eine Weile gedauert, bis Danny Boyle in den USA filmisch Fuß fassen konnte und die Kritiker überzeugte. Mit Lebe lieber ungewöhnlich und The Beach startete er im Land der unbegrenzten Möglichkeiten an den Kinokassen und bei Kritikern mit weniger erfolgreichen Produktionen. Nach 28 Days Later wurde sechs Jahre später Slumdog Millionär sein nächster großer Erfolg – und was für einer. Mit acht Oscars räumte der Bollywoodfilm made in Hollywood ab wie kein anderer und ihm gelang der Sprung in den Regie-Olymp – wenn er dort nicht für viele Fans durch Trainspotting – Neue Helden schon lange Zeit vorher hauste.
Nun, zwei Jahre später, erhielt sein Abenteurer-Drama 127 Hours sieben Nominierungen für den Oscar, darunter für den Besten Film. Danny Boyle selbst wurde allerdings für seine Inszenierung nicht von der Academy genannt, womit sie seine Leistung hinter der von Darren Aronofsky (Black Swan), Ethan Coen und Joel Coen (True Grit), Tom Hooper (The King’s Speech – Die Rede des Königs), David O. Russell (The Fighter) und David Fincher (The Social Network) einordnete. Nur auf einen Oscar für sein adaptiertes Drehbuch darf er gemeinsam mit Simon Beaufoy hoffen. Wir fragen uns, wieso die Oscar-Jury sich gegen eine Regie-Nominierung entschied – und haben einige Gründe gefunden.
Argument 1: Kein Danny Boyle-Monopol
Keine Frage: Danny Boyle ist ein visueller Virtuose. Schon 1996 zeigte er uns mit Trainspotting – Neue Helden seine markanten, optisch beeindruckenden, filmischen Visionen. Seine dynamischen und originellen Visualisierungen brachten ihm 2009 für Slumdog Millionär die Gunst der Academy und einen wahren Goldregen. Genau das könnte für die Bevorzugung anderer Regisseure bei der diesjährigen Verleihung sprechen. Denn obwohl Slumdog Millionär und 127 Hours thematisch kaum weiter voneinander entfernt sein könnten, sind die stilistischen Mittel, denen sich Danny Boyle wieder bedient, klar erkennbar. Rasante Kamerafahrten, hektische Montagen und Bildkompositionen sind seine Handschrift. Diese Ähnlichkeit ist der Jury womöglich zuviel des Guten. Danny Boyle zwei Jahre nach dem Oscar-Gewinn für eine stilistisch so ähnliche Arbeit nochmals auszuzeichnen, würde die hervorragende Arbeit anderer Regisseure untergraben und auf Ungerechtigkeit schließen lassen.
Argument 2: Angestrengte Inszenierung
Die Inszenierung in 127 Hours ist gelungen. Aus einer One-Man-Show von James Franco auf engsten Raum, holt Danny Boyle dramaturgisch erstaunlich viel heraus. Nachdem der Protagonist Aron Ralston in die Felsschlucht fällt und seinen rechten Unterarm unter einem massiven Felsbrocken einklemmt, bedarf es großes Können, den Zuschauer über eine Stunde mit einer an sich auf’s minimalistischste reduzierten Handlung zu unterhalten und zu fordern. Auch wenn dieses Ziel gelingt, merkt der Zuschauer der Inszenierung die Anstrengung, die sich dahinter verbirgt, an. Hätte der echte Aron Ralston nicht tatsächlich eine Videokamera benutzt, um seine Erlebnisse festzuhalten, hätte ein kreativer Kopf diesen dramaturgischen Kniff unbedingt entwerfen müssen, um die Wandlung der Figur sowie schlicht und ergreifend Abwechslung zu ermöglichen. Auch die von Danny Boyle ganz typisch inszenierten Szenen, in denen der Protagonist anfängt, zu halluzinieren (Trainspotting – Neue Helden lässt grüßen), sind gut und an passender Stelle eingesetzt. Dennoch hinterlassen sie schon während des Schauens den bitteren Nachgeschmack, dass der Film ohne diese Einschübe einfach langweilig gewesen wäre … auch für der Oscar-Jury.
Argument 3: Zu befremdlich
Einige inhaltliche Schwächen lassen uns stutzen und schmälern den Gesamteindruck von 127 Hours ein wenig. Vor allem zu Anfang bleibt der Zuschauer auf Abstand zu James Franco. Es entsteht erst langsam Empathie mit dem Helden. Das hat nichts mit James Franco selbst zu tun, der zurecht für seine schauspielerische Leistung in höchsten Tönen gelobt wird, sondern mit der über Strecken oberflächlichen Charakterzeichnung – für die Danny Boyle der oberste Verantwortliche ist. Ganz allmählich bauen wir, nicht zuletzt aufgrund der wortwörtlichen Nähe zum Protagonisten, eine emotionale Bindung auf. Über den Menschen Aron Ralston erfahren wir zwar nach und nach etwas, doch obwohl wir ihm während der schlimmsten Tage seines Lebens zur Seite stehen, bleibt der Held uns fühlbar fremd.
Ganz anders, allerdings ebenfalls befremdlich, ist der inhaltliche Umgang mit seinem rechten Unterarm. Bis zum schockierenden, nervenzerreissenden Finale macht der Abenteurer nicht den Eindruck, dass ihm der eingequetschte Arm merklich Schmerzen bereitet. Als wäre der Arm von Anfang an komplett abgestorben, wird diesem Aspekt keinerlei Beachtung geschenkt, und wir fragen uns: Wieso? Immerhin sollte dort doch ein Mensch wie du und ich in dieser Felsspalte stecken und kein schmerzresistenter Übermensch, oder? Dieser Tatsache, eine inhaltliche Schwäche, hätte Danny Boyle mehr Beachtung schenken können.
Auch wenn am Ende ein gelungener, packender Film bleibt: 127 Hours hat seine Ecken und Kanten, an denen der Zuschauer sich stößt. Dass Danny Boyle zur Weltklasse der Visionäre zählt und dass auch mit seinem Abenteurer-Drama beweist, wird aus ihm in diesem Jahr keinen Oscar-Regisseur machen. Da 127 Hours unter anderem als Bester Film nominiert ist, lässt darauf schließen, dass Danny Boyle nur knapp an einer Regie-Nominierung vorbei geschlittert ist. Vielleicht klappt’s ja wieder mit dem nächsten Film.
Hab heute ist 127 Hours in unseren Kinos zu sehen. Schaut also einfach selbst.
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