Es läuft wieder, das Filmfestival mit dem sympathischen Bärenlogo. Die Berlinale ist in vollstem Gange und Cineasten schauen gespannt auf die deutsche Hauptstadt. Drinnen präsentiert Angelina Jolie ihr Regiedebüt In the Land of Blood and Honey, bewundern glückliche Ticketbesitzer wahlweise Robert Pattinson in Bel Ami oder Meryl Streep in einer eigenen Hommage-Filmreihe und kämpft unsere Korrespondentin Sophie um ein ruhiges Plätzchen im Journalistenschreibzimmer. Draußen schieben sich Stars aller Bekanntheitsgrade frierend über den roten Teppich während Fotografen auf den perfekten Schnappschuss und Fans auf das perfekte Autogramm warten, und meterlange Schlangen bilden sich vor den Ticketschaltern.
Neben dem alljährlichen Film- und Starrummel ist die Berlinale aber auch immer wieder für ein Skandälchen oder Politikum gut. Im letzten Jahr schaute Berlin besonders nach Iran, wo der Regisseur Jafar Panahi an der Ausreise gehindert wurde. Die Jury hielt für ihr fehlendes Mitglied einen symbolischen Stuhl frei und machte auf die Menschenrechtsverletzungen in dem gebeutelten Land aufmerksam. In diesem Jahr scheint bisher alles seinen routinierten Gang zu gehen, doch das ist keine Selbstverständlichkeit. Alte Festivalhasen mögen sich vielleicht noch erinnern: wir schrieben das Jahr 1970, als das 1951 gegründete Filmfestival zum ersten und bisher letzten Mal vorzeitig abgebrochen wurde.
Kriegsverbrechen im Bayerischen Wald
Der Münchener Regisseur Michael Verhoeven zeigte im Wettbewerb der Berlinale einen Film mit Darstellern wie Eva Mattes, Rolf Zacher und Friedrich von Thun. O.K. spielt zwar, wie der Dialekt der Figuren vermuten lässt, in einem bayerischen Wald, beruht aber auf einer wahren Begebenheit, die sich in den Wirren des Vietnamkrieges zutrug. Der Film zeigt in beklemmenden Bildern, wie eine Gruppe junger Soldaten über das hübsche Mädchen Phan Ti Mao herfällt und es anschließend ersticht.
Was dem Ganzen abschließend die Krone aufsetzt, ist ein trinkfreudiger Captain, der das Geschehen abtut mit den Worten: „Der Mord ist außerhalb der Zivilisation geschehen, nämlich auf dem Schlachtfeld. Eine Strafanzeige würde der Sache des Friedens schaden“. Als Anlehnung an die damalige Kriegsberichterstattung drehte Michael Verhoeven den Film in schwarz-weiß und zog seinen Darstellern trotz des Schauplatzes US-Uniformen an. Sogar die Namen der Figuren waren authentisch.
Eine Jury demontiert sich
Das Klima auf der Berlinale konnte 1970 schon lange nicht mehr als kuschelig bezeichnet werden. Seit einiger Zeit herrschte große Unzufriedenheit über das Festivalprogramm, das nach Meinung vieler das weniger etablierte Kino kategorisch ausschloss. O.K. bot schließlich den Auslöser zum Ausbruch einer offenen Krise. Regisseur und Jurymitglied Manfred Durniok verließ nach der Vorführung des aufrüttelnden Beitrags protestierend den Kinosaal und entschuldigte sich später bei Jurypräsident George Stevens (Das Tagebuch der Anne Frank) für so viel Antiamerikanismus, während der jugoslawische Regisseur Dusan Makavejev seine Kollegen als Zensoren beschimpfte.
Die Mehrzahl der Juroren entschied trotzdem, den Film noch einmal der Auswahlkommission vorzulegen, um erneut zu prüfen, ob er dem Festivalreglement entsprach. Schon machten Gerüchte vom Ausschluss von O.K. von den Festspielen die Runde, und Teilnehmer sowie anwesende Journalisten begannen, gegen Zensur zu protestieren. Viele Regisseure zogen ihre Beiträge zurück, unter ihnen Rainer Werner Fassbinder seinen Film Warum läuft Herr R. Amok?.
Ein vorzeitiges Ende und ein Neuanfang
Im Fall O.K. hatte die Jury ganz eindeutig entgegen den eigenen Vorschriften gehandelt: „Die Jury beurteilt den künstlerischen Wert eines Films, sie prüft nicht, ob die Filme die Voraussetzung für die Zulassung zum Wettbewerb erfüllen. Diese Aufgabe obliegt der Festivaldirektion und dem Auswahlkomitee“, so hieß es in ihrer Verfahrensordnung. Das und die Tatsache, dass die Mitglieder mittlerweile entsetzlich zerstritten waren, führte letztlich zum Rücktritt sämtlicher Juroren und des Festivalleiters Alfred Bauer. Alle weiteren Filmvorführungen wurden abgesagt und auch Preise wurden nicht vergeben.
Kurzzeitig stand nach dem Skandal sogar das Fortbestehen der Berlinale auf der Kippe, aber – Halleluja – die Einigung kam. Die Festspiele wurden künftig für künstlerischere und unabhängige Filme geöffnet und eine neue Sektion eingerichtet: Das Internationale Forum des jungen Films war geboren, das seinen Fokus auf politisch engagiertes Kino legt und uns auch in diesem Jahr wieder Filme wie Avalon von Axel Petersén oder Modest Reception von Mani Haghighi beschert.
Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1970 bewegte:
Drei Filmleute, die geboren sind
29. April 1970 – Uma Thurman, die blonde Rächerin aus Kill Bill: Volume 1
26. August 1970 – Melissa McCarthy, Brautjungfer Megan aus Brautalarm
08. Oktober 1970 – Matt Damon, Jason aus Die Bourne Identität
Drei Filmleute, die gestorben sind
29. März 1970 – Lew Kuleschow, russischer Regisseur und Entdecker des Kuleschow-Effekts
04. Mai 1970 – Piero Pierotti, italienischen Regisseur von Das Finale liefert Zorro
22. Juli 1970 – Fritz Kortner, österreichischer Regisseur von Die Büchse der Pandora
Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscar – Asphalt-Cowboy von John Schlesinger (Bester Film, Bester Regisseur)
Goldene Palme – M.A.S.H. von Robert Altman
Deutscher Filmpreis – Katzelmacher von Rainer Werner Fassbinder
Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Love Story von Arthur Hiller
Airport von George Seaton
M.A.S.H. von Robert Altman
Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
11. April 1970 – Start der Apollo 13 – Mission
14. Mai 1970 – Gründung der Rote Armee Fraktion
07. Dezember 1970 – Willy Brandt kniet vor dem Warschauer Ghetto-Ehrenmal