Lost wird 20. Es muss also 20 Jahre her sein, dass ein guter Freund in der Schule zu mir kam und meinte: "Kennst du diese Serie schon, in der alle auf einer Insel abstürzen?" Wenn ich damals gewusst hätte, wie viele Stunden ich in Foren verbringen würde, um die Erste zu sein, die das Rauchmonster-Rätsel knackt – ich hätte ihm gedankt. Die damals aufkommende Online-Vernetzung und die Diktatur des Fernsehprogramms haben ein unwiederholbares Produkt ihrer Zeit geschaffen.
Das Inseldrama ist unter unfassbaren Umständen und mit unvergleichlich kreativer Kraft entstanden, überschattet von immensen Fehlentscheidungen und schlechtem Umgang mit Mitarbeitenden. Lasst euch auf eine Reise mitnehmen in die Höhenflüge und Abgründe einer der prägendsten TV-Serien überhaupt.
Das Disney-Wunder von 2004: Dass Lost überhaupt das Licht der Welt erblickte, ist unfassbar
Alles begann mit einem Mann namens Lloyd Braun. Er war beim Disney-Sender ABC Geburtshelfer für neue Serienideen. Er entschied, welche der Tausend Konzepte jedes Jahr tatsächlich zu Serien werden dürfen und Lost war sogar sein eigenes. Braun wollte Cast Away mit noch mehr Survival-Drama, ist in Berichten bei EW und dem umfassenden Lost-Wiki Lostpedia nachzulesen.
Da die Zahlen von ABC damals zu wünschen übrig ließen und er eine Vorahnung hatte, bald gehen zu müssen, lag Lloyd Braun umso mehr an Lost. Und tatsächlich verabschiedete er sich von seiner Zeit bei ABC mit dem mit über 14 Millionen US-Dollar bis dahin teuersten Piloten der TV-Geschichte, der den Sender-Chefs die Augenringe schwärzte.
Das wahre Wunder liegt aber in einer anderen Zahl: Die Zwölf thronte zu Beginn über Lost wie ein Damoklesschwert. Denn in nur zwölf Wochen sollte der zweiteilige Pilot umgesetzt werden, weil der Sender noch im selben Jahr mit der Serie an den Start gehen wollte. Ein lächerlich kleiner Bruchteil der Zeit, die so ein Projekt normalerweise braucht.
Innerhalb weniger Tage mussten die kurzfristig hinzugeholten J.J. Abrams und Damon Lindelof das Drehbuch überarbeiten. Bis dahin war Lost ein bodenständiges Überlebensdrama ohne Mystery-Elemente. Es musste eine Location gefunden und dann ein kaputtes Flugzeug von der US-Westküste an einen Strand in Hawaii geschifft werden. Es mussten Darstellende für den gesamten Ensemble-Cast gefunden werden – und alle großen Stars waren vergeben oder hatten schon andere Piloten an Land gezogen. Ach ja, und es musste gedreht werden. Wenn ihr mehr über die unfassbare Anfangszeit wissen wollt, lege ich euch die erste Lost-Folge des Podcasts What weng wrong ans Herz.
All den Widerständen zum Trotz, die sich in diesen zwölf Wochen türmten, erblickte der zweiteilige Pilot von Lost am 22. September 2004 das Licht der Welt und war ein unglaublicher Erfolg. 18 Millionen Leute wollten das mysteriöse Survival-Drama sehen. Es ist ein Wunder, dass Lloyd Brauns Wagnis nicht nur funktionierte, sondern auch alle Erwartungen übertraf.
Lost wurde zu einer der meistverfolgten und vermutlich die meistdiskutierte Serie der TV-Geschichte, die ABCs medienwirksame Mystery-Tradition nach Twin Peaks fortsetzte. Braun wurde gefeuert, noch bevor Lost abgedreht war – seine Stimme ist im Original aber in fast jeder Folge bei "Previously on Lost" zu hören.
Das hausgemachte Desaster: Das Level an Improvisation war nicht ewig aufrechtzuerhalten
Lost war von Beginn an ein Kind der Improvisation. Alles daran wurde aus dem Stegreif erschaffen. Das führte zu einer immensen Diskrepanz zwischen dem, was die Serie versprach und dem, was sie lieferte. Dass die Showrunner Damon Lindelof und Carlton Cuse einfach so weitermachten und inhaltlich ihre Rätsel immer weiter aufbauschten, ohne den erwarteten Pay-off am Ende ausgearbeitet zu haben, ist mittlerweile Allgemeinwissen.
Von dieser Zwiespältigkeit aus revolutionärem Erzählen (mehr darüber bei CBR ) und Enttäuschen gibt es heute viele Zeitzeugen. Beispielsweise ein Eintrag bei WGA West , der Lost als eine der am besten geschriebenen Serien aller Zeiten wähnt, und eine Listung beim Rolling Stone unter den schlechtesten TV-Entscheidungen aller Zeiten – betreffend das komplizierte Finale (das wir euch an dieser Stelle in 7 Sätzen erklären).
Allerdings betraf die Improvisation nicht nur die Drehbücher, sondern auch die Kultur im Writers’ Room und den schrecklich ernüchternden Umgang mit einigen Stars und deren Figuren. Lindelof und Cuse übernahmen Lost schon nach dem Piloten als Showrunner, da J.J. Abrams lieber Mission Impossible III drehen wollte. Während sie das Fernsehen prägten, versagten sie menschlich.
Späte Enthüllungen über Lost überschatten, was die Serie geschaffen hat
Lost sollte aller TV-Geschichte zum Trotz vor allen anderen Dingen als Mahnmal gelten, wie es nicht ablaufen sollte. Erst letztes Jahr erschien das Buch Burn It Down: Power, Complicity and a Call For Change in Hollywood * von Maureen Ryan, das einen sehr niederschmetternden Bericht über den Rassismus und die Misogynie am Set von Lost enthält. Auszüge davon wurden bei Vanity Fair online bereitgestellt.
Ryan interviewte unter anderem Schauspieler Harold Perrineau (Michael in Lost) und die Drehbuchschreiberinnen Monica Owusu-Breen und Melinda Hsu Taylor. Zum einen startete das rassistische Denken schon im Writers’ Room, wo die Geschichte erdacht wird. Schreckliche Kommentare und stereotypes Denken über so ziemlich alle Charaktere of Color seien von den Showrunnern geduldet und sogar unterstützt worden.
Das äußerte sich letztlich auch darin, dass trotz diversem Ensemble-Cast die Haupt-Storylines und meiste Screentime ausschließlich den weißen Charakteren Jack, Kate, Sawyer und Locke zufielen. Diese Entwicklung im Verlauf der Serie ist umso trauriger, wenn man bedenkt, dass das improvisierte Casting ohne spezielle Vorstellung für Geschlecht und Ethnizität der Charaktere stattfand. Mit Harold Perrineau (Michael), Naveen Andrews (Sayid), Daniel Dae Kim (Jin), Yunjin Kim (Sun) und Jorge García (Hurley) wurden zahlreiche fantastische Schauspieler:innen gecastet, die in ihren Geschichten aber oft auf ihre Herkunft oder ihr Aussehen reduziert werden.
Als Harold Perrineau noch während der Dreharbeiten zu Staffel 2 die beiden Showrunner darauf ansprach, dass sein Charakter Schwarze Stereotypen bedient wie den abwesenden Vater und er gerne eine ausgeglichenere Storyline hätte, wurde er in Staffel 3 aus der Serie geschrieben.
Lindelof selbst hat sein fundamentales Versagen mittlerweile eingestanden – was sein Verhalten und die schlechte Erfahrung vieler Mitarbeitenden von Lost in keinster Weise wiedergutmacht. Auch vermeintliche Genies hinter den größten Serienerfolgen tragen Verantwortung für einen sicheren Arbeitsplatz, wie die Podcast-Hosts Chris Winterbauer und Lizzie Bassett in ihrer fantastisch recherchierten Folge What went wrong: Lost (2) resümieren.
Was ist in den 20 Jahren von Lost übriggeblieben? Verhärtete Fronten, ob das Ende gut ist; Erstaunen über die Entstehungsgeschichte; Ernüchterung über das Versagen der Showrunner. Eines ist sicher: Es lohnt sich auch heute noch, über Lost zu reden – die positiven wie erschreckenden Seiten, von denen immer noch zu lernen ist.