Filmkritiker als Prügelknaben der Nation

11.06.2012 - 08:50 UhrVor 12 Jahren aktualisiert
Anton Ego - Der Kritikerpapst à la Pixar
Disney
Anton Ego - Der Kritikerpapst à la Pixar
45
50
Kritiker sind ein unentbehrlicher Teil der Filmkultur. Trotzdem scheint ihr Ansehen sowohl bei Arbeitgebern als auch beim Publikum ins Bodenlose zu sinken. Auf wenige andere Berufsgruppen wird so gern eingeprügelt. Haben Kritiker ausgedient?

Schon seit einer ganzen Weile läuft Marvel’s The Avengers im Kino. Doch bei den einschlägigen amerikanischen Blogs ist der Film indirekt noch immer aktuell. Denn als Filmkritiker A.O. Scott seinen durchwachsenen Text über den Film für die New York Times veröffentlichte, äußerte sich überraschend ein berühmter Leser. Samuel L. Jackson, auch bekannt als Nick Fury (!), tweetete aufgebracht: “Avengers Fans, NY Times Kritiker AO Scott braucht einen neuen Job! Lasst uns ihm dabei helfen. Einen, für den er tatsächlich geeignet ist” Nimm das, armer Journalist! Der Millionen Dollar-Mann hat gesprochen. Anstatt die skurrile, sehr einseitige Fehde zu übergehen, dreht sich in den Staaten einmal mehr die Diskussionsspirale rund um den Sinn der Filmkritik. Sie ist berechtigt, wenn auch nicht im Sinne Sam Jacksons.

Einmal im Kreis, bitte
Nachdem der kleine Twitter-Skandal in den Blogs die Runde machte, nahm A.O. Scott zusammen mit dem Journalisten David Carr das Thema wieder in einem Video auf, in dem sie darüber diskutieren, ob Kritiker nur dazu da sind, den Filmfans schöne Erlebnisse zu versauen. Zur Frage äußerten sich daraufhin Kollegen wie Glenn Kenny und Jim Emerson. Zu guter Letzt veröffentlichte die GQ fast zeitgleich einen Kommentar über die Krise der Kunstkritik im Internetzeitalter. Viel Leidenschaft für die Zunft ist in dieser Diskussion spürbar, aber auch eine ständige Bedrängnis durch wirtschaftliche Umstände.

Schon seit Jahren dreht sich der Kreisel auf beiden Seiten des Atlantiks rund um den vermeintlichen Tod der Filmkritik. Die einen machen das Internet verantwortlich (Der zum Kopfschütteln animierende Klassiker in dieser Kategorie ist bei der Berliner Zeitung nachzulesen), die anderen die Realität des Journalismus. Der Aufschrei war groß, als 2010 ausgerechnet der Branchendienst Variety seine Kritiker feuerte. Selbiges galt für den unfreiwilligen Abgang von J. Hoberman bei der Village Voice im Januar diesen Jahres. Das sind nur die berühmten Namen unter all den Filmkritikern, die in den USA und anderswo auf Grund von wegbrechenden Absätzen im Printbereich Einsparungen zum Opfer fallen.

Jeder, der nur einen Fuß in die Welt der Filmkritik gesetzt hat, weiß dass dieser Job auch hier in Deutschland für viele nie mehr als ein Hobby, ein kleiner Nebenverdienst sein kann, der weiß, dass selbst anständige Magazine ihre Autoren teils nichts bezahlen, der weiß, dass Lohn und Brot sich in diesem Bereich oft genug auf Rezensionsexemplare, eine Referenz und den Spaß an der Freude beschränkt. Doch als wäre die ökonomische Misere dieses Berufsstands nicht genug, hetzen nun auch noch die gut bezahlte Stars gegen die Institution des Kritikers. Vielleicht sollten Sam Jackson und Kevin Smith einen No Critics Club aufmachen.

Einmal Selbstmitleid, bitte
Von verlustig gehenden Jobs, wütenden Stars und der im Internet deutlich lauteren Stimme des Volkes werden die Kritiker bedroht. Was also tun? Sie tun das, was sie am besten können: Sie diskutieren. Mehr bleibt ihnen zunächst nicht übrig. Sie diskutieren über ihren Job, ihre Berufung und die Frage, ob Kritiker zwangsläufig gescheiterte Filmemacher sind. Sie fragen sich, ob der Neid aus ihren Texten spricht und warum sie mit ihrer abgehobenen Akademiker-Pose immer so eine schlechte Laune bei den echten Filmfans verbreiten müssen. Das alles ist keineswegs neu, sondern begleitet die Filmkritik seit Jahrzehnten. Es sind Fragen, die gerade im World Wide Web immer dann aufbrodeln, wenn eine Stimme sich gegen einen Hype wendet, wenn populäre Produkte für mehr als nur Entertainment genommen und entsprechend beschrieben werden.

Wenn diese Diskussion eines bewirkt, dann hoffentlich ein gesteigertes Bewusstsein für den eigenen Job bei den Schreibern. Zum einen, weil ihre Ursprünge untermauern, dass Kritiken eine Bedeutung haben, dass in der Kunstform noch Leben steckt. Sonst würden die Studios ihre neuesten Meisterwerke nicht hinter lächerlichen Sperrfristen verstecken. Zum anderen schärft ein solcher Diskurs die eigene Wahrnehmung. Was ist überhaupt Kritik (criticism)? Wo liegt die Grenze zur Kaufberatung, zur Rezension (review)? Welchen Einfluss üben Kurznachrichtendienste wie Twitter und Aggregatoren wie RottenTomatoes auf die Texte aus?

Einmal Selbstbewusstsein, bitte
Fest stehen schließlich zwei Dinge. Zum einen wird die Mehrzahl der Kinogänger in einer Kritik oder Rezension nie mehr als den Daumen nach oben oder nach unten, die zwei oder neun Punkte sehen. Das ist ihr gutes Recht. Zum anderen ist die kritische Auseinandersetzung mit der Kunst ein notwendiger Bestandteil unserer Kultur. Sie bildet nicht nur einen Mittler zwischen Werk und Rezipient, sondern einen ersten Schritt der Kontextualisierung und Einschätzung, den nachfolgende Generationen nach Belieben aufrollen und umwälzen können. Pauline Kael meinte dazu pragmatisch: “Wir brauchen Kritiker für die Wahrnehmungen, für das, was wir nicht vollends begreifen, wenn wir das Werk betrachten.”

Bei der aktuellen Diskussion geht es nämlich nicht so sehr um die leidliche Unterscheidung zwischen professionellen (bezahlten) und Amateur-Kritikern, die immer wieder für Grabenkämpfe im Netz sorgt. Roger Ebert schrieb dazu mal: “Was das Internet erschafft, ist eine Klasse von gebildeten, talentierten Amateur-Kritikern, die in einer alten Tradition stehen. Wie [Anthony] Trollope, der als britischer Postbeamter sein ganzes Leben verbrachte, schreiben sie für die Liebe und das, weil sie es müssen.” Stattdessen sieht sich die Filmkritik, ob rentabel oder nicht, vor der Herausforderung, sich gegenüber Prozenten, Daumen, 140-Zeichen-Nachrichten und, ja, auch berechneten Empfehlungen zu behaupten, nicht in die Deckung zu gehen. Sie stellt der Schnelllebigkeit des Internets, dem Tweet, Retweet, Fave und Verschwinden aus der Timeline etwas entgegen, das im besten Falle Jahre nachwirkt.

Eine Anekdote aus meinem Leben als Leserin: Seit meiner Kindheit habe ich so gut wie alle Filme von Tony Scott mehr unfreiwillig als freiwillig gesehen. Ich habe sie gehasst und das jahrelang. Irgendwann stieß ich dann auf den Blog The Notebook der fabelhaften Seite mubi. Dort las ich zutiefst verwirrende Texte über Tony Scott, die all das, was mich an seinen Filmen so unglaublich genervt hatte, in einen neuen Kontext stellten. Kurzum: Sie haben mir einen neuen Blickwinkel und meiner DVD-Sammlung neuen Zuwachs beschafft. Es waren kritische Texte von Daniel Kasman und anderen, die die Filme nicht als Produkt mit Preisschildchen, sondern als Kunstwerk in der imaginären Galerie eines Cineastenlebens betrachteten. Um in dieser Galerie den Überblick zu behalten und in dunklen Ecken versteckte Entdeckungen zu machen, braucht es die Filmkritik. Abseits ihrer kulturellen Bedeutung gilt doch: Sie bereichert unser Leben.

Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News