Horrorfilm im Lockdown: Die Hölle ist ein Kinderzimmer mit YouTube-Zugriff und inzestuösen Barbie-Puppen

18.02.2022 - 10:03 UhrVor 2 Jahren aktualisiert
Coma von Bertrand Bonello läuft bei der Berlinale
Les films du Bélier / My New Picture / Remembers
Coma von Bertrand Bonello läuft bei der Berlinale
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Der Lockdown verstört in Coma von Bertrand Bonello als entfremdender Teenager-Horror, während Claire Denis' Figuren im Berlinale-Film Fire zwischen Masken an der Nähe verzweifeln.

Wie wird man wohl in zehn, zwanzig, dreißig Jahren auf Filme schauen, in denen Menschen medizinische Masken tragen, die Coronavirus-Pandemie aber mit keinem Wort erwähnen? Diese Frage stellt sich ständig bei der diesjährigen Berlinale.

Zwei neue Filme großer französischer Regisseur:innen zeigen, wie unterschiedlich eine Auseinandersetzung mit den pandemischen Umständen aussehen kann: Bertrand Bonello verfilmt den Lockdown in Coma als Teenager-Horror mit inzestuösen Barbie-Puppen, während Claire Denis In Fire eine Beziehung durch zerstörerische Nähe in die Krise stürzt.

Der Horror ist die Abwesenheit der Anderen in Betrand Bonellos Coma

Coma, das steht einerseits für die fiktive YouTube-Personality Patricia Coma (Julia Faure), andererseits im übertragenen Sinne für den Zustand des namenlosen Mädchens (Louise Labeque aus Bonellos Zombi Child) im Zentrum des Films. Ihr Bewegungsradius beschränkt sich auf das Kinderzimmer und ziellose Gänge durch die Straßen.

Coma

Je länger sie in diesem nicht näher definierten Lockdown verharrt, desto größer werden jedoch die Reisen ihrer Fantasie. Da plappern die Barbie-Puppen in ihrem Zimmer, als befände sie sich am Set einer Seifenoper, in der sich ein extravaganter Twist auf den nächsten türmt. Nachts irrt das Mädchen in seinen Träumen durch dunkle Wälder, trifft Schulfreundinnen, die sie sonst nur per Facetime sieht. Ein Gefühl der Befreiung kommt dadurch jedoch nicht auf. Es dominiert vielmehr die Paranoia einer aus den Fugen geratenen Realität, in deren Ritzen man sich verlieren kann.

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So zumindest mein Eindruck eines Films, der Essay, Horrorfilm-Elemente und Widmung in sich vereint, einen Vortrag des französischen Philosophen Gilles Deleuze referenziert und auch sonst alles andere als eine gradlinige Handlung darstellt. Coma gibt sich im Vergleich zu Bonellos letzten Filmen Zombie Child und Nocturama als skizzenhafte Improvisation, wie der Lockdown sie vielfach unter Filmemacher:innen hervorgebracht hat.

Er zeichnet sich aber auch durch seine Unmittelbarkeit aus, denn Bonello widmet das Werk seiner 18-jährigen Tochter, die in einer Welt im permanenten Krisenzustand erwachsen wird. Mal fühlt sich dieser Film deswegen an wie eine Hommage an David Lynch, dann wie ein Video-Call, in dem der Regisseur seine Thesen zur Jugend von heute zum Besten gibt. Beides ist sehenswert, allerdings auch schwer durchdringbar. Worüber man vielleicht froh sein sollte. Um mal eines der unangenehmeren Bilder des Films zu nutzen: Wer seine Hand zu tief in den Mixer steckt, läuft Gefahr ein paar Finger zu verlieren.

Für Juliette Binoche und Vincent Lindon gerät die Nähe zum Fluch

Einen anderen Weg wählt Claire Denis in ihrem "Corona-Film". Der alle paar Wochen neu betitelte Fire (bis vor Kurzem: Both Sides of the Blade) beginnt mit Bildern reinster Harmonie. Zwei Liebende (Juliette Binoche und Vincent Lindon) stehen in glasklarem Meerwasser, über ihnen der strahlend blaue Himmel. Sie küssen sich, halten sich, sind frei und doch vereint. Weit und breit keine Menschenseele im Urlaubsparadies.

Fire

Wieder zurück in Paris, schleicht sich die Pandemie in den Hintergrund. Menschen schweigen darüber, doch sie tragen Masken. Letztere gehören zum Alltag und werden trotzdem als irrelevant behandelt (reden Menschen miteinander, nehmen sie die Masken gerne ab, was ein Publikum der Zukunft vermutlich weniger irritieren wird als mich).

Vor diesem Hintergrund entwickelt sich eine Dreiecksgeschichte, die Züge einer überweltlichen Besessenheit annimmt. Als er (Lindon) nämlich ein Geschäft mit seiner Ex (Binoche) anfängt, scheint eine vergessene Kraft von ihr Besitz zu ergreifen. Furcht und Sehnsucht wechseln sich bei ihr ab: Furcht, dass sie ihrem Ex wieder verfallen wird, und Sehnsucht danach, ihm wieder zu verfallen. Fehlt nur noch ein Dämon und ein Exorzist.

Fire ist jedoch ein dialoglastiges Beziehungsdrama und damit ganz anders gelagert als Claire Denis' Science-Fiction-Film High Life mit Robert Pattinson. Legt man die Hoffnungen auf eine neue Geschmacks-Entgrenzung der Regisseurin beiseite, erhält man eine intime Beziehungsstudie mit zwei fantastischen Hauptdarsteller:innen.

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Gemeinsam mit ihrer Co-Autorin Christine Angot (Meine schöne Innere Sonne) und ihren Stars baut Claire Denis in dem Drama Momente überwältigender Intensität auf. Ausgerechnet die Nähe entwickelt in diesem Film nämlich eine zerstörerische Kraft. Das erhält durch durch die vielen Masken im Hintergrund eine zeitgemäße Rahmung. Er ist bis zur Selbstaufgabe in sie verliebt, sie jedoch zieht es zu einem anderen, der auch kein langfristiges Glück verspricht. Je näher sie sich kommen, desto größer das Leid. Und niemand kann dagegen etwas tun.

Dass dieser Film mit einem Gefühl der Befreiung endet, ist Denis und Angot hoch anzurechnen, besonders in diesen Zeiten. Noch mehr Respekt muss ich ihnen zollen, weil es ihnen mit einem Deus Ex Machina-Kniff gelingt, den ich so simpel und offensichtlich nicht erwartet hätte. Nicht jeder Lockdown-Film muss im Horror enden. Davon gibt es in der Realität schon genug.

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