Als Jennifer Lawrence das letzte Mal auf der großen Leinwand zu sehen war, spielte sie in No Hard Feelings eine Frau, die in der Vorhölle des Erwachsenenlebens feststeckte. Es war eine ihrer Figuren, die so lange gegen eine Wand rennt, bis sie durchbricht oder daran zerbricht. Zwei Jahre später meldet sich Lawrence mit wesentlich härterer Kost zurück, wobei sie sich ihren beißenden Sarkasmus in Die, My Love bewahrt hat.
In dem aufreibenden Psychodrama von Regisseurin Lynne Ramsay (We Need to Talk About Kevin) spielt der ehemalige Panem-Tribut zum ersten Mal mit Ex-Vampir Robert Pattinson zusammen. Ein Traumpaar sieht allerdings anders aus, denn Die, My Love ist der reinste Psychotrip, in dem sich Lawrence die Seele aus dem Leib kratzt und schreit. Ohne sie wäre der Film verloren.
Jennifer Lawrence versinkt in Die, My Love im Horror der Häuslichkeit
Diesmal steckt Lawrence' Figur nicht in der Jugend fest, sondern im Rest ihres Lebens. Grace (Lawrence) wird von unmerklichen Schockwellen erfasst, wenn sie auf den Alltag ihrer Schwiegermutter mit dem heimeligen Namen Pam (Sissy Spacek) schaut. Pam hat es sich in einem Gefängnis aus Einfamilienhaus und frisch gebackenem Kuchen eingerichtet und schlafwandelt nachts mit ihrer Schrotflinte unter dem Arm über die Landstraße.
Graces Furcht ist nicht in Gänze unbegründet. Mit ihrem Partner Jackson (Pattinson) wohnt sie seit kurzem im Haus seines toten Onkels auf dem Land. Die beiden Stadtmenschen tanzen und vögeln sich in einer Punkrock-Fantasie zu Beginn des Films über den Wohnzimmerfußboden, doch mit der Geburt ihres Kindes versiegt zumindest seine Ekstase.
Grace, die eigentlich als Autorin arbeiten wollten, verbringt jeden Tag in dem Haus, erst mit Insektensurren, dann Kindergeschrei und dann auch noch einem bellenden Hündchen, den Jackson ungebeten mitgebracht hat. Es ist eine Kakophonie der Häuslichkeit, die jeden Morgen über die herabsinkt, wenn Jackson zur Arbeit fährt.
Nun könnte man erwarten, dass sich Die, My Love in die wachsende Liste von Filmen über Mütter mit gravierenden Bindungsängsten gegenüber ihrem Nachwuchs einreiht. Schon bei der Berlinale gab es 2025 kaum ein heißeres Thema, wie etwa Mother's Baby und If I Had Legs I'd Kick You zeigten. Für letzteren gewann Rose Byrne sogar verdient den Darstellerinnenpreis.
An dieser thematischen Weggabelung wird in Die, My Love glücklicherweise in die andere Richtung abgebogen. Die Adaption von Ariana Harwicz' Roman Stirb doch, Liebling zielt auf eine rücksichtslose Innenperspektive postpartaler Depression ab, anstelle eine weitere Mutter zu zeigen, die sich 120 Minuten lang fragt, ob sie gut genug für ihr Kind ist.
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Die Performance von Jennifer Lawrence ist radikal körperbetont
Dieses Psychogramm treibt Jennifer Lawrence zu einer radikal körperlichen Performance an, der sie voll und ganz gewachsen ist. Mal kriecht Grace mit einem Küchenmesser in der Hand durchs Gras, dann rekelt sie sich sehnsüchtig in Erwartung ihres Mannes, der definitiv nicht kommen wird. Vernachlässigung und lähmendes Unglück kompensiert Grace mit einem fast infantilen Spieltrieb. Die Grenzen zwischen Hilferuf und Psychose verschwimmen.
Lynne Ramsay und Kameramann Seamus McGarvey pressen den unerträglichen Druck, den die Leere in Graces Leben aufbaut, in ätherische Baumkronen, blutig gekratzte Fingerspitzen und allerhand tierische Freiheits-Metaphern.
Der emotionale Notstand steht eigentlich so früh im Film auf der Höchststufe, dass man sich eine weitere Steigerung kaum vorstellen kann oder will. Die Steigerung wird kommen – das Finale ist im Prinzip das 2001: Odyssee im Weltraum der postpartalen Depressions-Filme und der ergreifendste Abschnitt des Films. Der Pfad dahin führt allerdings durch so viele Krisen, Ausraster und Kreisch-Duelle, dass statt der Verzweiflung eine Redundanz dominiert, die fast kaltlässt. Fast, weil Die, My Love immer noch eine Jennifer Lawrence in der Hauptrolle hat, die einem schlicht nicht egal sein kann.
Neben Jennifer Lawrence wirkt Robert Pattinson hilflos
Das hat sie schon in Darren Aronofskys ähnlich aufgekratzten Film mother! bewiesen und das tut sie auch hier. Von der seelischen Destruktion bis zum Slapstick, Jennifer Lawrence wechselt in Die, My Love virtuos die Tonlagen, während der Rest des Films dazu kaum imstande ist.
Gerade Robert Pattinson wirkt im Vergleich zur Oscarpreisträgerin nicht nur blass, sondern hilflos. Was einerseits an seiner eintönig geschriebenen Figur liegen mag. Graces Perspektive lässt einen differenzierteren Blick auf Jackson kaum zu. Es hilft andererseits nicht, dass er Jennifer Lawrence mit nervösen Ticks und Grimassen entgegentritt, als handele es sich um ein schauspielerisches Wettrüsten. Ihr Duell ist das filmgewordene Hydrogen Bomb vs. Coughing Baby-Meme. Auf welcher Seite der Batman-Darsteller steht, ist offensichtlich.
Wir haben Die, My Love beim Festival in Cannes gesehen, wo er im Wettbewerb um die Goldene Palme läuft. Einen deutschen Kinostart hat der Film noch nicht.