Wir verfolgen hier bei moviepilot tagtäglich das Newsgeschäft, lesen von Superheldenfilmen, Reboots von Superheldenfilmen und Preboots von Superheldenfilmen. Viel Abwechslung herrscht zur Zeit in der Traumfabrik. Da wird bekanntlich seit jeher jeder halbwegs erfolgreiche Zaubertrick kopiert, vervielfältigt, variiert, solange bis die Zuschauer keinen Bock mehr darauf haben. Eine Meldung gab es in den vergangenen Wochen allerdings nicht zu schreiben: Produktionsfirma X hat Regisseur Y angeheuert, um Stummfilmdrehbuch von Z zu verfilmen. Das liegt nicht nur daran, dass Namen in der Regel aus mehr als eine Buchstaben bestehen. Vergangene Woche sammelte The Artist von Michel Hazanavicius zehn Nominierungen für den Oscar und das, ohne ein verkopftes, schwer verkäufliches Drama zu sein. The Artist präsentiert sich als klassische Unterhaltung, die zufällig auch stumm daher kommt und die Zuschauerherzen fliegen dem Film nur so zu. Einen Nachahmereffekt können wir allerdings nicht beobachten.
Ein kleiner Junge und ein großer Filmstar
Zusammen mit Hugo Cabret von Martin Scorsese für The Artist die Liste der Filme mit den meisten Oscar-Nominierungen dieses Jahr an. Die beiden haben aber noch etwas anderes gemein, als nur den Erfolg in der Awards Season. Sie verbeugen sich vor eine Epoche, wie sie heute entfernter scheint, denn je. The Artist erzählt wie Du sollst mein Glücksstern sein den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, allerdings ohne Gesang, stattdessen mit den Mitteln einer längst vergangenen Epoche. Hugo Cabret wiederum nähert sich mit der 3D-Technik der ebenfalls stummen Frühphase des Kinos an, erzählt die Geschichte eines ihrer größten Schöpfer von außen, während The Artist die Innenperspektive liefert. Anfang und Ende einer für das Kino wegweisenden Zeit werden von den Filmen abgedeckt. Beide feiern das Medium und die Academy feiert nun die zwei Filme. Ganz so, als würde sie sich darüber freuen, dass überhaupt jemand noch etwas findet am Hollywoodkino, ohne zu meckern.
In Zeiten der großen Krise spiegeln die Oscars die Sehnsucht nach der guten alten Zeit wider. Das zeigen auch Retrowerke wie Gefährten und Drive. Der diffuse Wunsch nach ‘früher, als alles besser war’ beschränkt sich also nicht nur auf den Stummfilm. Hugo Cabret und The Artist fangen dieses Gefühl jedoch am besten ein. Der eine, weil er das Früher idealisiert wieder auf die Leinwand bringt, der andere, weil er das Kino an seinen Ursprung als Jahrmarktattraktion erinnert und seine Möglichkeit feiert, uns in Fantasiewelten zu entführen. Dass im Zeitalter komplexer Spezialeffekte ausgerechnet eine Lokomotive, ein paar Pappwellen und skurrile Kostüme genügen, um Martin Scorseses Hugo über die Macht des Films staunen zu lassen, wirkt wie eine feine Ironie. Oder eine traurige.
The Artist ist ein Einzelkind
Michel Hazanavicius hat mit The Artist keinesfalls den modernen Stummfilm neu erfunden. Wenn überhaupt, hat er ihn entschlackt und massentauglich verpackt. Sah und sieht sich die Konkurrenz (z.B. La Antena) dazu veranlasst, ihr Dasein als Stummfilm in der Moderne künstlerisch zu begründen, folgt The Artist dem einfachen Pfad: Moderne? Was für eine Moderne? Deswegen liefert der Streifen kein Modell für den Stummfilm im neuen Jahrtausend und kann so keine Vorbildfunktion ausüben. Besonders produktiv ist diese Form von Nostalgie nicht. Das scheinen sich instinktiv auch die Produzenten in Los Angeles zu denken. The Artist dürfte zwar keine Eintagsfliege sein, aber eine große Verwandtschaft wird nicht aus seinem künstlerischen Boden sprießen.
Demgegenüber scheint Hugo Cabret trotz seines Themas ganz in der Moderne angekommen zu sein. Da wird die Verwendung der 3D-Effekte visuell treffend mit den Stummfilmkulissen im Atelier des Herrn Méliès verwoben und ihrer eigentlichen Aufgabe nähergebracht: (Fremde) Welten auf der Leinwand auferstehen lassen, damit wir sie erkunden können. Die Nostalgie pulsiert auch in den Adern des Hugo Cabret, vor allem aber geht es Martin Scorsese um das künstlerische Schaffen, dem er eine filmische Ode vor die Füße legt. Es geht ihm um Kreativität, um den Fortschrittsgeist und ganz besonders um die Liebe zum Zuschauer. Wahrscheinlich werden wir keine Welle von Stummfilmen im Fahrwasser von The Artist erleben. Aber es wäre löblich, wenn sich ein paar Filmemacher in der Traumfabrik Hugo Cabret ganz genau anschauen.
Könnt ihr euch vorstellen, dass nach The Artist Stummfilme wieder in Mode kommen?