Tote Mädchen lügen nicht - 13 Gründe für mehr Empathie

29.04.2017 - 08:50 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Tote Mädchen lügen nichtNettflix
3
16
Die Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht soll Jugendliche gefährden und zum Selbstmord verführen. Jugendliche werden vorm Anschauen gewarnt, Eltern und Schulen sind besorgt. Aber die Diskussion verfehlt ihr Ziel.

Der Rückstoß, der die Serie Tote Mädchen lügen nicht (OT: 13 Reasons Why) derzeit ereilt, war gewiss kalkuliert. Die Serie will Wunden aufkratzen, die in den USA spätestens seit dem Amoklauf an der Columbine High School im Jahr 1999 jucken, nässen, brennen, aber weitgehend ignoriert werden, was sich nicht nur in einer allgemein akzeptierten Sturheit ausdrückt, den Waffenbesitz zu beschränken. Gesellschaften neigen dazu, extremes Verhalten ihrer Teilnehmer zu isolieren. Das Böse und Schädliche wird als Einzelfall abgestempelt. Schließlich bedarf die Besonderheit als solche keiner eingehenden Analyse, welche unter Umständen Rückschlüsse auf viel größere Probleme im gemeinsam getragenen Wertesystem zutage führen würde. Die Dokumentation Tower setzt sich mit einem Heckenschützen auseinander, der 1966 an einer texanischen Universität 16 Menschen erschoss. Der Film schließt mit dem Gedankenspiel des Journalisten Walter Cronkite: "Der Schrecken, die Kranken unter uns, muss im Schrecken unserer Überzivilisation gesucht werden", erkennt er, und: "Es scheint wahrscheinlich, dass Charles Jospeph Whitmans Verbrechen ein Gesellschaftsverbrechen war."

Die Vermutung eines Gesellschaftsverbrechens wird nach einem entsprechenden Vorfall gemeinhin allerdings vermieden, denn der gemeinsame Beschluss, das vorliegende Problem sei eine Anomalie, macht die Rückverfolgung des Symptoms unnötig. Wir kennen das: Wenn's unterm Backenzahn ein wenig zieht, dann vergeht das schon wieder. Ne, in der Regel ist dann irgendwas richtig faul.

Die Debatte um 13 Reasons Why folgt ähnlichen Instinkten. Es geht in ihr nicht um die Probleme, die die Serie anspricht, sondern darum, dass sie angesprochen werden und wie die Serie sie illustriert. Es geht um alles, nur eben nicht um die Gesellschaftskrankheiten, auf die 13 Reasons Why verweist und die sie in ihrem - in der Tat reißerischen - Plot verarbeitet. Die Serie wird zu etwas, vor dem es Kinder zu schützen gilt . Schulen schließen die Serie aus, wird von Schülern berichtet , Psychiater warnen, die Serie könnte Jugendliche zum Selbstmord anregen. Es heißt, ein von Netflix zurate gezogener Experte hätte dem Streaming-Dienst von vorneherein abgeraten, die Serie überhaupt zu veröffentlichen . Der Werther-Effekt wird geargwöhnt, eine Suizid-Epidemie, die sich von 13 Reasons Why aus über eine labile Jugend legt. Die Alternative, sich nicht literarisch mit Suiziden auseinanderzusetzen (und über sie zu berichten) erscheint kaum als legitimes Gebot. Aber die glamouröse Theatralik des in 13 Kapitel aufgeteilten Abschiedsbriefes unterfüttert die Befürchtung, Zuschauer könnten sich zur Nachahmung der gezeigten Tat inspiriert fühlen.

Hart treffen die Serie deshalb auch Glorifizierungs- und Romantisierungsvorwürfe . Der Selbstmord würde als verheißende Option und adäquate Lösung präsentiert. Die Autoren der Serie rechtfertigen sich: "Wir haben uns bemüht, die Szene nicht willkürlich wirken zu lassen. Wir wollten, dass [die Szene] schmerzhaft zu anzuschauen ist, denn wir wollten klarstellen, dass an Selbstmord nichts, absolut nichts, in überhaupt keiner Weise, Lohnendes zu finden ist", sagt Showrunner Brian Yorkey. Die Serie lässt die Welt sich nach Hannahs Selbstmord weiterdrehen. Ihre Mutter findet Hannah in einer rotgefärbten Badewanne auf. Autor Nic Sheff äußerte sich in einem ausführlichen Stück für Vanity Fair  zur Darstellung des Suizids, er schreibt darin auch über eigene Selbstmordversuche. Selbstmord ist für ihn "nicht friedlich und schmerzlos, es ist ein qualvolles, gewaltsames Ende aller Hoffnungen und Träume und Möglichkeiten in der Zukunft." Er wollte zeigen, wie ein Selbstmord aussieht, sich abspielt, was er bewirkt, und damit abschrecken, nicht verführen.

Dennoch warnt auch die Schauspielerin Shannon Purser (Riverdale) eindringlich vor 13 Reasons Why.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle findest du einen externen Inhalt von Twitter, der den Artikel ergänzt. Du kannst ihn dir mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.

Twitter Inhalte zulassenMehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Vor allem die unmittelbare Darstellung der Selbstmordmethode, die Hannah Baker (Katherine Langford) in der letzten Episode wählt, erregt Anstoß. Die Szene zeigt sehr präzise eine effektive Methode zur Herbeiführung eines Verblutungstodes. Wie sowas im Detail funktioniert, muss nicht jeder selbstmordgefährdete Jugendliche wissen. Die größten Schockwellen gehen von dieser Szene aus. Die Debatte reibt sich an ihr und verliert den Weg aus den Augen, der von der ersten Minute der Serie zu dieser Szene hinführt. Der Qualität der Debatte ist das abträglich.

Denn: Wäre es nicht wertvoller, über die Rape Culture  an amerikanischen Schulen und Hochschulen zu sprechen? Darüber, wie es sein kann, dass ein Mädchen innerlich allmählich zerbricht und ein Bienenschwarm aus Beratungslehrern, Eltern, Freunden und Mitschülern nichts davon mitbekommt? Und wieso eigentlich werden Hannah Bakers 13 Gründe verharmlost?

In 13 Reasons Why geht es mitnichten um die First World-Problems eines traurigen Mädchens, das nur mal feste in den Arm genommen werden muss und dann ist alles wieder in Butter. Hannahs Figur ist, soweit ich das beurteilen kann, eine Chimäre aus vielen verschiedenen Selbstmordursachen; ihr Charakter dient der Verbildlichung aller möglichen Selbstmordgefahren. Auch die übrigen Figuren tragen eher symbolische und damit pädagogische Funktionen. Bis auf wenige Ausnahmen gleicht die Zeichnung der Charaktere der einer Karikatur: Ihre Skizzen tragen die Schildchen Mobbing, sexuelle Gewalt, Bloßstellung, Teenage Angst.

Hannah wurde gemobbt, entwürdigt, als heranwachsende Frau wiederholt objektiviert und so in ihrer Identität nachhaltig destabilisiert. Sie wird hintergangen, Freunde wenden sich gegen sie. Sie ist einsam und wird letztlich durch eine Vergewaltigung in einen Abgrund gestoßen. Ihre Wahrnehmung von Wirklichkeit ist anschließend verzerrt, ihre Gefühlswelt nachhaltig vergiftet. Sie fühlt sich ungeliebt, obwohl ihre Eltern ihr einziges Kind nach wie vor verehren. Sie fühlt sich verlassen, obwohl Hauptfigur Clay (Dylan Minnette) ihren Annäherungsversuchen aufgeschlossen ist. Die Welt ist nicht so hoffnungslos, wie Hannah glaubt. Sie beschreibt ihrem Vertrauenslehrer gegen Ende der Serie, vor ihrem Selbstmord, Depressionssymptome. In der Serie wird Hannahs Tod als Gesellschaftsverbrechen aufgefächert. Gegen die Schule läuft ein Verfahren, Schüler und Lehrer müssen sich verantworten und ihr Handeln hinterfragen. Genau dieser Prozess kommt in der aktuell geführten Debatte nicht in die Gänge.

Es heißt immer wieder, Hannah Baker nutze ihren eigenen Selbstmord dazu, sich an ihren Mitmenschen zu rächen , als betreibe sie eine Art Selbstdarstellungsuizid. Das ist ein leichtfertiger Vorwurf an die mit sozialen Medien aufgewachsene Generation des Figurenensembles. Mit den Tapes nimmt Hannah keine Rache. Ihr Adressat ist eine verrohte Gesellschaft. Die Tapes holen das nach, was Hannahs soziales Umfeld zuvor versäumte. Sie ermöglichen elaborierte Einblicke in ein Mädchen, das Hilfe gebraucht hätte, diese aber nicht erhalten hat. Davon müsste diese Diskussion handeln. Die Serie ist ein Aufruf zu mehr Sensibilität und Empathie im Umgang miteinander.

Katherine Langford, die Darstellerin der Hannah, sagte im Interview über die Serie 13 Reasons Why:

Sie wurde hergestellt, um zu unterhalten. Aber je nachdem, wie die Leute sie aufgreifen, wird das, was wir in der Serie behandeln, Diskussionen entfachen. [...] Wenn die Leute etwas daraus mitnehmen und sich der Menschen um sich herum bewusst werden, das wäre das Coolste überhaupt.

Wenn ihr euch von der Thematik betroffen fühlt, kontaktiert umgehend die Telefonseelsorge . Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110-111 oder 0800-1110-222 erhaltet ihr Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus scheinbar aussichtslosen Situationen aufzeigen konnten.

Das könnte dich auch interessieren

Schaue jetzt Tote Mädchen lügen nicht

Kommentare

Aktuelle News