22. Juli auf Netflix: Wie sich zwei Filme über einen Amoklauf ergänzen

10.10.2018 - 15:55 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
Paul Greengrass' 22. Juli und Erik Poppes Utøya 22. JuliNetflix / Weltkino
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Heute erscheint auf Netflix mit 22. Juli der neue Film von Paul Greengrass, nachdem kurz zuvor mit Utøya 22. Juli ein Werk zur selben Thematik ins Kinos kam. Doch die dichte Veröffentlichung kommt dem Zuschauer zugute.

Als ich erstmals hörte, dass 2018 nicht nur einer, sondern gleich zwei Filme zu den Terroranschlägen in Norwegen vom 22. Juli 2011 erscheinen sollten, war ich äußerst skeptisch. War es schon lange genug her, um diese schreckliche Gewalttat in eine Unterhaltungsform zu gießen? War es überhaupt möglich, das auf "angemessene" Weise zu tun? Für mich fühlen sich die 7 Jahre, die seit den Anschlägen vergangen sind, definitiv kürzer an. Doch natürlich wurden die zwei Filme unabhängig von meinen persönlichen Bedenken gedreht und ich habe sie mir nichtsdestotrotz angesehen und festgestellt: Der am 20.09.2018 im deutschen Kino angelaufene Utøya 22. Juli von Erik Poppe und Paul Greengrass' heute, am 10.10.2018 auf Netflix startende 22. Juli sollten für eine bewusste Aufarbeitung mit dem Vergangenen am besten beide angesehen werden.

22. Juli: Zwei Filme, eine Geschichte

Ursprünglich hatte ich angenommen, dass der Kinofilm Utøya 22. Juli und der Netflix-Film 22. Juli einfach nur zwei Versionen der gleichen Ereignisse in Norwegen 2011 werden würden. Doch dem ist nicht so - zumindest nicht ausschließlich. Nicht nur nähern sich die beiden Werke ihrer schweren Thematik auf sehr unterschiedliche Weise an, sie lassen sich auch als ineinandergreifende Fortführung der Geschichte ansehen.

22. Juli

Während sich Erik Poppes Film als eine lange Plansequenz ohne Schnitte gewissermaßen in Echtzeit ausschließlich dem Amoklauf auf der Insel Utøya widmet und den Zuschauer das Grauen von Chaos und Panik dort aus der Perspektive der 18-jährigen Kaja (Andrea Berntzen) miterleben lässt, macht Paul Greengrass' Film den Amoklauf nur zu einem kleinen Teil seiner Erzählung. Indem er auch die Vorbereitung und insbesondere das lange Nachspiel in Form von Heilungs- und Gerichtsprozessen abbildet, liefert er die im anderen Film "fehlenden" Fakten ab. Es ließe sich also behaupten, dass der zur Aufarbeitung bereite Zuschauer erst durch das Anschauen beider Filme ein Gesamtbild der damaligen Ereignisse erhält.

22. Juli: Wie die zwei Filme die Stärken und Schwächen des anderen aufzeigen

Durch die einmalige Chance, im Kino und auf Netflix zwei Filme zur selben Thematik so kurz hintereinander schauen zu können, müssen die zwei Werke sich natürlich unweigerlich dem Vergleich zum Gegenstück stellen. Doch auch wenn dadurch der eine Film auf interessante Weise die Schwächen des jeweils anderen aufzeigt (und umgekehrt), kann das für uns als Zuschauer für die Verhandlung des 22. Juli 2011 im Medium Film nur von Vorteil sein.

Bereits Utøya 22. Juli sorgte als One-Shot-Film für eine Kontroverse, den 22. Juli so nachzuerzählen. Auch wenn Erik Poppe sich für die Wahrheitstreue seines Werks mit Überlebenden des Insel-Amoklaufs traf, um seine Vermittlung des Terrors als reine, unmittelbare Erfahrung noch authentischer zu gestalten als es durch die fehlenden Schnitte ohnehin schon passierte, stellt sich in den teils echte Übelkeit erregenden Kamerafluchten durch die Wälder trotz der konsequenten Umsetzung die Frage nach der Angemessenheit. Denn so ernst die Herangehensweise auch gemeint sein mag: Der Film ist und bleibt nun mal ein Unterhaltungsmedium, dass seine Vorlage ausnutzt - schon allein dadurch, dass er sich diese wahren Ereignisse (geschmacklos?) zum Thema wählt. Dann wiederum achtet Erik Poppes Werk jedoch darauf, dem wahren Täter kaum Raum, kein Gesicht und schon gar keinen Namen zu geben.

Utøya 22. Juli

Das ist bei Paul Greengrass' 22. Juli vollkommen anders: Er wählt in dem Netflix-Film einen multiperspektivischen Ansatz, erzählt die Ereignisse also nicht nur aus der Sicht des Opfers Viljar Hanssen (Jonas Strand Gravli) nach, sondern auch aus der des Premierministers Jens Stoltenberg (Ola G. Furuseth), des Anwalts Geir Lippestad (Jon Øigarden) und des Attentäters Anders Breivik (Anders Danielsen Lie). Doch gerade diese vielen Sichtweisen müssen mit Vorsicht genossen werden. Obwohl sie ein umfassendes Bild zeichnen sollen, nehmen sie gleichzeitig der Entfaltung einer einzigen eingehenden Geschichte den Raum. Indem Viljar und Breivik gleichviel Platz eingeräumt wird, ja indem dem Attentäter überhaupt ein Gesicht und damit (die von ihm angestrebte) Aufmerksamkeit gegeben wird, droht 22. Juli zur Anders-Breivik-Show zu verkommen, zumal der Terrorist die erste auftretende Figur ist und ihr Schauspieler als erstes im Abspann steht. Chronik und persönliche Annäherung verschwimmen, obgleich deutlichere Trennschärfe oder das eindeutigere Beziehen einer Position besser gewesen wäre.

22. Juli: Eine Frage der Perspektive

Wer zuvor Erik Poppes Film gesehen hat, wird außerdem unweigerlich den Eindruck haben, dass Paul Greengrass' Version der Insel-Schießerei stark gekürzt, wie das Abarbeiten einer Station des Terrors, wirkt. Aber möglicherweise hat das Schauen beider Film in umgekehrter Reihenfolge einen gegenteiligen Effekt, sodass der Eindruck entsteht, Utøya 22. Juli würde die Tragödie zu sehr auswalzen? Doch genau wegen solcher Gedanken lohnt es sich, beide Filme anzusehen. Durch die Annäherung aus zwei Sichtweisen, nämlich Erik Poppes hochemotionaler norwegischer und Paul Greengrass' distanzierterer internationaler Perspektive, gewissermaßen einer Innen- und Außensicht auf die Ereignisse, lässt sich für den Zuschauer ein Mittelweg gehen.

22. Juli: Breivik und sein Anwalt

Es soll an dieser Stelle nicht behauptet werden, dass es ein Leichtes ist, die zwei Filme zum 22. Juli mit nur geringem Abstand zueinander anzusehen, denn jeder davon ist in seiner Art und Weise der Nacherzählung alles andere als einfach zu verdauen. Beide Werke besitzen ihre Stärken und Schwächen, ich bereue es aber nicht, beide gesehen zu haben. Tatsächlich würde ich es sogar jedem ans Herz legen, sich nicht nur auf das Anschauen eines Films zu beschränken, denn durch das Zusammenspiel der vier Perspektiven bei Greengrass und der einen konsequenten Sichtweise von Poppe erwächst etwas viel Erstrebenswerteres: die reflektierte eigene Perspektive des Zuschauers.

Habt ihr vor, sowohl 22. Juli als auch Utøya 22. Juli zu sehen?

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