Vor Jahren saß ich in einem Seminar über Departed – Unter Feinden und dessen Vorlage Infernal Affairs – Die achte Hölle. Der Vorteil der intensiven Auseinandersetzung mit nur zwei Filmen ist, dass der motivierte Student von Welt diese beiden dann ungefähr fünf bis zehn mal sieht, im Schnelldurchlauf, in Zeitlupe, in Brocken, über mehrere Stunden verteilt, in Bröckchen beim Erstellen eines Sequenzprotokolls und in Krümeln für ein Einstellungsprotokoll. Mein persönliches Endergebnis nach wochenlangen Analysen und nächtlichem Tastaturgefolter waren drei Dinge: eine akzeptable Hausarbeit von 30 Seiten, eine Allergie gegen Rattenmetaphern und die Erkenntnis, dass Anthony Wong Chau-Sang der coolste Schauspieler auf diesem Erdenrund ist.
Im Mittelpunkt von Infernal Affairs steht das Katz- und Mausspiel von Tony Leung Chiu Wai und Andy Lau, zwei der größten Stars des chinesischsprachigen Kinos. Die Szene, die mein Herz eroberte und es mit jeder Sichtung bis aufs Blut verteidigt, war eine andere, eine unspektakuläre, aber zentrale. Da treffen Triadenboss Sam (Eric Tsang) und Superintendent Wong (Anthony Wong) im Polizeirevier aufeinander. Sam futtert genüsslich, weil in Hongkonger Filmen beim Gespräch einfach genüsslich gefuttert werden muss und vermutlich auch, weil er Hunger hat. Wong sitzt ihm ruhig gegenüber. Beide wissen von den Spionen in ihren Reihen, nur noch nicht, wer genau für die Gegenseite spitzelt. Passenderweise stehen die Schuldigen ebenfalls in diesem Raum, aber eigentlich dreht sich alles nur um die beiden Chefs, die dieses Spiel seit Jahren zelebrieren. Sam ist laut, aufbrausend, nicht zu unterschätzen, Wong leise, besonnen, nicht zu unterschätzen. Sams Augen weiten sich im Verlauf des Gesprächs, er schmeißt seine Stäbchen im gespielten Schock hin und wischt das Essen in einer beleidigenden Geste vom Tisch. Wong, von der Kamera im Gegensatz zu Sam im Profil eingefangen, spricht mit Bedacht und einem süffisanten, aber nicht arroganten Lächeln, er lauert auf die Reaktionen, die seine Worte hervorrufen und als Sam das Gericht über dem Tisch verteilt, weicht Wong nur langsam mit seinem Bürostuhl zurück und rollt dann wieder an den Tisch, unbeeindruckt. Es ist eine meisterhaft inszenierte Szene von zweieinhalb Minuten, in der die unterschiedlichen Schauspielstile der beiden Beteiligten perfekt aufeinander abgestimmt, mit ihren Figuren synchronisiert und eingefangen werden. Es ist einer der vielen Momente in der Filmografie von Anthony Wong, in dem er alle Beteiligten an die Wand spielt, ohne den Kraftakt seines Jobs oder den Gedanken eines Wettstreits spürbar werden zu lassen.
In seinen ersten großen Rollen glänzte Anthony Wong seltener durch reduziertes Spiel. Als Yuppie-Bösewicht in Hard Boiled und psychopathischer Serienkiller in The Untold Story agierte er am Rande zum Overacting, was im Kontext der überdrehten Filme nicht weiter stört. Die Karriere eines Filmschauspielers in Hongkong führte in diesen Jahren nicht über eine ans Theater angelehnte Ausbildung, sondern über das Trainingsprogram eines der beiden großen TV-Sender TVB oder ATV, was den Stil der Stars nachhaltig prägte. Eine klassische Schauspielschule wurde in Hongkong erst in den 80ern gegründet und Anthony Wong, der vorher den ATV-Workshop durchlaufen hatte, gehörte zu ihrem ersten Jahrgang.
Nicht zuletzt wegen seiner Herkunft – Wongs Vater war Brite – wurde er in der Kronkolonie auf die Rolle des Bösewichts festgelegt und wie kaum ein anderer Schauspieler verschrieb er sich diesen abstoßenden Figuren mit voller Inbrunst. Ohne Scham und Eitelkeit gab er in den frühen Neunzigern Vergewaltiger, Kannibalen, vergewaltigende Kannibalen und kannibalistische Vergewaltiger. Hauptrollen ergatterte er in Exploitation-Granaten und Schlock der schlimmsten Sorte. In größeren Produktionen gab er den Scene Stealer vom Dienst, etwa als stummer Handlanger in Heroic Trio, wo er in einer Szene recht unbekümmert seine eigenen Finger futtert (wie war das mit Hongkong und Essen…?). In Fight Back to School III von Jing Wong rennt er in einem weißen Pelzmantel durch die Gegend und trägt ein totes Frettchen als Kopfbedeckung. In Mongkok Story von Wilson Yip gibt er einen schmierigen Triaden und Möchtegern-Filmstar mit langer Matte, der in einer Szene ziemlich lächerlich Desperado imitiert und in einer anderen unseren Helden zu einem Blowjob zwingt. Schmierig und etwas einfältig waren selbst viele seiner sympathischeren Figuren wie der dauerpopelnde Tai Fai in der erfolgreichen Young & Dangerous-Reihe.
Die Quintessenz seiner frühen Rollen und vor allem auch seines Images bannte Anthony Wong in Ebola Syndrome 1996 auf Zelluloid. Der Sicko von Herman Yau baut seinem asozialen Antihelden ein Denkmal und Wong lässt sich mit seiner versammelten Spielfreude ganz in diesem Außenseiter fallen. Zu diesem Zeitpunkt galt er bereits als wildes Enfant terrible, das zu Preisverleihungen im Freddy Krueger-Kostüm erschien und seinen ersten Hong Kong Film Award dem Vernehmen nach auf der Toilette aufbewahrte. Die Hassliebe zwischen dem an Shakespeare ausgebildeten Wong und einer Filmindustrie, die keine seinem Talent und Qualitätsanspruch angemessenen Rollen bereithielt, mündet in Ebola Syndrome in einem gigantischen Mittelfinger. Ein Jahr vor der Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik China zog das Dream Team Herman Yau und Anthony Wong ein letztes Mal so richtig vom geschmacklosen Leder. Wenig später versank Hongkongs Filmindustrie in einer bis heute andauernden Krise, der Exploitation-Film verkümmerte… und ausgerechnet Anthony Wongs Karriere blühte erst richtig auf.