Berlinale 2017 - Tiger Girl & ein aufregendes deutsches Kino

12.02.2017 - 09:40 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Tiger Girl/BerlinaleConstantin Film
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Vor zwei Jahren mischte Jakob Lass mit seinem Independentfilm Love Steaks die deutsche Kinolandschaft auf. Nun feierte sein jüngstes, ebenso wildes Werk Tiger Lady im Rahmen des Panoramas der Berlinale 2017 seine Premiere.

Nachdem Jakob Lass mehrere Kurzfilme und einen Langfilm gedreht hatte, realisierte er im Rahmen seines Studiums an der HFF Konrad Wolf das unabhängig von Fördergeldern und Senderbeteiligung produzierte Projekt Love Steaks. Die außergewöhnliche Liebesgeschichte schaffte es ein Jahr nach ihrer Premiere auf dem Filmfest München 2013 hierzulande in die Kinos. Nun folgt das nächste Werk des ehrgeizigen Regisseurs, der sich ähnlich wie die kreativen Köpfe hinter Der Nachtmahr und Wir sind die Flut gegen die konventionellen Mechanismen des deutschen Kinos sträubt. Tiger Girl ist ein wilder Ritt durch Berlin, der sich ein bisschen so anfühlt, als würden Emil und die Detektive und Spring Breakers ungehemmt aufeinandertreffen, inszeniert mit jener aufregenden Schaffenskraft, die bereits Love Steaks in einen der besten deutschen Mumblecore -Filme verwandelt hat. Wir haben den Film im Rahmen des Panoramas der Berlinale 2017 gesehen und unseren Eindruck aufgeschrieben.

Tiger Girl erzählt die Geschichte der jungen Vanilla (Maria-Victoria Dragus), die nach der Schule gerne bei der Polizei anfangen würde, allerdings durch die Aufnahmeprüfung fällt. Also landet sie bei einem Sicherheitsdienst, wo sie ebenfalls ihrer Passion nachgehen kann: Vanilla mag es, wie sie sagt, den Menschen zu helfen und etwas Soziales zu tun. Dabei tritt sie stets sehr höflich auf - zu höflich, wie die geheimnisvolle Tiger (Ella Rumpf) findet. Diese verkörpert alles, was Vanilla nicht ist, sprich: Tiger ist impulsiv, lässt sich von niemandem etwas vormachen und hält vom Bürgertum genauso wenig wie vom Einhalten gesellschaftlich anerkannter Regeln. Wo sich Vanilla lieber für einen Fehler entschuldigt, den sie gar nicht begangenen hat, schlägt Tiger einfach zu. Kein Wunder, dass sich die Auszubildende vorerst skeptisch zeigt, als ihr die unberechenbare Tiger in den unerwartetsten Momenten begegnet. Dennoch formt sich nach und nach eine besondere Freundschaft zwischen den beiden.

Tiger Girl

"Höflichkeit ist auch nur eine Art Gewalt, die du dir selbst antust", heißt es zu Beginn dieser Freundschaft, in der es schnell darum geht, Grenzen auszuloten. Durch Tiger lernt Vanilla sich selbst zu schätzen und macht enorme Fortschritte in puncto Selbstvertrauen. Früher oder später überschreiten die beiden allerdings eine Grenze und dann ist es zu spät. Verführt von der Möglichkeit der Tat erkennt Vanilla gar nicht mehr, in welch eine Gewaltspirale sie sich verloren hat. Ging es anfangs noch darum, Widerstand zu leisten und auszubrechen, dominiert nun die Willkür das Geschehen. Vanilla, die bisher von ihrer Umwelt unterdrückt wurde und daher extrem verunsichert ist, hat dank ihrer neuen besten Freundin einen Weg gefunden, um aus ihrem Gefängnis der Höflichkeit auszubrechen. Das Problem ist bloß: Während die beiden ihren Spaß haben, verpasst Vanilla den Moment der Erfahrung, wie sie Tiger über all die Jahre mühsam sammeln musste/konnte.

Jakob Lass fängt dieses Gefälle gekonnt in seiner Inszenierung ein. Wie schon bei Love Steaks greift er auch bei Tiger Girl auf die Regeln der FOGMAs  zurück. Ausgangspunkt dieses Manifests ist die Überwindung der Frage, wie Filme richtig gemacht werden. Um dieses Ziel zu erreichen, werden einfach eigene Maßstäbe gesetzt. Im konkreten Fall der FOGMAs gestalten sich die Regeln wie folgt: Eine fiktionale Handlung vereint sich mit einer dokumentarischen Umgebung, die möglichst viel Platz für Improvisation offen lassen soll. Dementsprechend können die Schauspieler ihre Figuren, die zuvor bloß schemenhaft skizziert wurden, intuitiv ausbauen und eine besondere Nähe zu diesen erschaffen. Jakob Lass kommt es auf die Offenheit und Spontanität beim Entstehungsprozess an. So kann er - genauso wie seine zwei Protagonistinnen - Grenzen ausloten, in diesem Fall die des Filmemachens. Das Ergebnis ist also nicht perfekt, dafür aber umso aufregender.

Tiger Girl

Jede Ader in Tiger Girl schreit förmlich danach, dass es hier um das Ausprobieren von Dingen geht, die sich nirgends üben lassen. Während Vanilla dabei zunehmend die Kontrolle verliert, interessiert sich Jakob Lass mit fortschreitender Laufzeit für das genaue Gegenteil. Immer wieder finden Stilbrüche statt und die improvisierten Szenen weichen etwa einer lässigen Montage oder sogar einer komplett einstudierten Kampfsequenz, die mittels cooler Zeitlupen, Farbfilter und Musikeinlagen gänzlich überzeichnet, sprich komplett inszeniert ist. Je weiter der Film fortschreitet, desto mehr nimmt diese ästhetisierte Gewalt zu, ganz zum Verhängnis der Figuren, die sich von sich selbst entfremden, bis schlussendlich wieder die gleiche Unsicherheit herrscht wie zu Beginn der Handlung. Der Unterschied ist bloß, dass sich Vanilla nun nicht mehr mit einem Blick auf den Boden aus der Affäre zu ziehen versucht, sondern unreflektiert zum Angriff bläst.

Aus Opfern werden Täter, die zu Opfern werden: Zwischen all den reißerischen Beats und Neonfarben eröffnet Jakob Lass durchaus einen Diskurs für die moralische Grauzone, in der sich die Figuren bewegen. Leider gelingt ihm nicht das unglaubliche Meisterwerk der emotionalen Nähe, wie es bei Love Steaks der Fall war. Selten offerierte ein deutscher Film so unverkrampft eine dermaßen komplexe Liebesgeschichte zwischen Gefühlen und Zwängen. Auch in Tiger Girl befinden sich ähnliche Voraussetzungen für eine solche Erzählung. Oft überwiegt allerdings der Hang zum Spektakel, ohne diesem eine zweite Ebene hinzuzufügen. Doch vielleicht ist das der Preis, der gezahlt werden muss, wenn jemand alles auf eine Karte setzt, um unsere Sehgewohnheiten zu testen und mit einem lauten Schrei durcheinanderzubringen. Tiger Girl ist quicklebendig und lässt hoffen, dass 2017 ein ebenso ergiebiges Jahr für die hiesige Kinolandschaft wird wie das vergangene.

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