Boyhood - Linklaters Spiel mit der filmischen Timeline

06.06.2014 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
Der junge Mason (Ellar Coltrane).
IFC Productions/ Detour Filmproduction
Der junge Mason (Ellar Coltrane).
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Richard Linklater will das Leben zeigen, in all seinen aufregenden und langweiligen Facetten. Mit den herkömmlichen Strategien des Erzählkinos sah er diese Möglichkeit nicht ausreichend gegeben. Für sein ‘Lebenswerk’ Boyhood erschloss er neue Methoden der anschaulichen Darbietung einer Biographie.

Als Lorelei Linklater ihrem Vater und Regisseur anbietet, ihre Figur doch sterben zu lassen, lehnt der das ab. Zu melodramatisch wirkt der Tod eines Familienmitgliedes. Zu inflationär wird der Tod als Stilmittel, als Twist im amerikanischen Drama verwertet, als dass er authentisch, normal erscheinen könnte. Denn genau das hat Richard Linklater abbilden wollen, sagte er bei der Boyhood -Premiere während der Berlinale: Eine normale Familie, die ein normales Leben lebt. Er erschaffte eine Fiktion, die an der Realität kratzt.

Premiere 4.207 Tage nach Drehbeginn
Dafür musste Linklater die ihm zur Verfügung stehenden Kinostrukturen- und Konventionen umformen. Für Boyhood, die filmische Timeline des jungen Mason und seiner Familie, erfindet Linklater neue Strategien für die plausible Unterweisung von Fiktion. Der Drehzeitraum – noch nie feierte ein Film 4.207 Tage nach Drehbeginn seine Premiere – ist dabei keine eitle Pose, sondern die methodische Aufopferung für den Realismus. Ein Mal im Jahr traf die Crew sich, um drei, vier Tage an dem Film zu arbeiten. Die expandierenden Drehintervalle, die zeitlichen Abstände zwischen zwei Arbeitstagen lassen Linklater über zwei Aspekte verfügen, die dem herkömmlichen Sozialdrama abhanden kommen. Zum einen steht es ihm frei, die immer gleichen Schauspieler mit ihren Figuren altern zu lassen: Ellar Coltrane als Mason, Lorelei Linklater als seine große Schwester Samantha, Patricia Arquette als Mutter Olivia und Ethan Hawke als Wochenend-Daddy Mason sr. – sie alle werden während der Dreharbeiten zwölf Jahre älter.

Mehr: Was sagen die Kritiker zu… Boyhood?

Zum anderen muss der Zeitgeist einer Periode nicht künstlich herbeigeführt werden. Wenn das Auto-Radio Lady Gaga spielt, dann eben nicht, weil sich jemand daran erinnerte, dass damals Poker Face rauf und runter lief, sondern weil es eben genau dann, während die Szene geschossen wird, genau so war. Wenn der Controller von Masons Spielkonsole noch mit einem Kabel versehen ist, dann nur, weil zu dem Zeitpunkt in der Vergangenheit eben kein anderes Material zur Verfügung stand. Boyhood versucht sich in der Darstellung konservierter fortschreitender Vergangenheit. Die Requisiten sind genauso Zeitindikatoren wie ein sprießendes Barthaar oder eine neue Frisur.

Das normale Kino ist für die Normalität zu klein
Dramatische oder spannende Ereignisse haben dabei nie im Vordergrund stehen sollen. Wobei es in diesem 160 Minuten langen Film Boyhood hin und wieder natürlich doch etwas dramatisch wird – aber diese Prise Aufregung, die ist dann ja auch wieder normal und Teil der stilisierenden Wahrhaftigkeit. Linklaters Interpretation des Realismus ist zugleich protzig und behutsam. Linklater zeigt zwar das schlichte Leben, fordert aber exakt mit diesem Ansatz das Kino und seine Strukturen heraus. Um sie zu überspringen und neue Stufen des Realismus zu erklimmen, erfand er entsprechende, aufwändige, risikoreiche Strategien. Denn das herkömmliche Erzählkino ist zu klein für Richard Linklater. Das normale Kino ist für die Normalität zu klein.

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