... dennoch nennenswert, stellen Frauen auf dem Regiestuhl doch immer noch eine Minderheit dar. Eine Nische in der Nische sozusagen. Ja, der Horror ist in meiner Wahrnehmung noch immer ein Nischengenre im Feuilleton, das trotz erfolgreicher Vertreter und dessen filmhistorisch und gesellschaftlich unabstreitbaren Einflusses weiterhin viel zu unterschätzt bleibt – es sei denn, die Romeros, Cravens und Hoopers dieser Welt segnen das Zeitliche, dann war der Horror schon immer sozial und kulturell relevant. Aber diese Diskussion soll an dieser Stelle nicht geführt werden. Und eigentlich sollte auch das Thema „Frauen auf dem Regiestuhl“ kein primärer Aspekt sein. Doch mit RAW hat erneut eine Frau Außerordentliches abgeliefert und das muss erwähnt werden, um die Bedeutung dieses Umstandes zu unterstreichen.
Nach zwei gelungenen Horrorausflügen mit ES und mother! stand am dritten Kinoabend in Folge also dieser viel besprochene Film an, der bereits seit einiger Zeit für Furore sorgt. Die junge Justine (überragend: Garance Marillier) beginnt ihr Studium an einer Veterinärschule. Als Neuankömmling wird auch sie nicht von den Aufnahmeritualen verschont. Eine Aufgabe besteht darin, ein rohes Stück Hasenniere zu essen. Die überzeugte Vegetarierin sträubt sich anfangs dagegen, gibt dem Druck aber letztendlich nach, um nicht als Außenseiterin und Spielverderberin dazustehen (Das Außenseiterdasein kommt noch früh genug …). Was sie große Überwindung kostet, entfacht eine noch größere Wirkung an und in ihr. Sie entwickelt eine Abhängigkeit nach rohem Fleisch, die sich nicht nur auf Häscheninnereien beschränkt …
Klingt irgendwie noch nicht so nach dem Film, der laut ’seriösen‘ Kino-Seiten zum Kotzen anregt und Ohnmachtsanfälle hervorruft, oder? Ist er nämlich nicht, "RAW" ist viel mehr als das. Viel mehr als reißerischer Kannibalensplatter und blutrünstiges Menschengefresse. Julia Ducournaus Film ist so eindringlich wie das mexikanische Kannibalendrama Wir sind was wir sind und so hypnotisch wie The Eyes of My Mother. "RAW" geht tiefer, ist hinterhältiger und trifft deinen Nerv mit subtileren Mitteln, um die Intensität zu steigern. "RAW" ist explizit, hält nicht zurück, aber glorifiziert zu keinem Zeitpunkt. Eher fordert und fördert er das Verständnis, die Empathie für Menschen, deren Neigungen nicht der Norm entsprechen, aber nun mal existieren.
Man kann Justines Geschichte als Metapher für den neuen Lebensabschnitt sehen, der nach der Schule mit der wachsenden Unabhängigkeit und Verantwortung einhergeht. Man kann sie als Selbstfindungstrip der bizarren Art sehen, oder als Ausdruck für triebgesteuerte Verhaltensmuster, die in der zivilisierten Gesellschaft abseits des Verständnisses von Normalität liegen. Die Handlung lädt zum fröhlichen Interpretieren ein, wirkt aber zu keinem Zeitpunkt verkopft oder konstruiert.
Kurz vor der Vorstellung hatte ich gar keine so große Lust mehr auf den Film. Die Vorfreude war gering, die Erwartungen ebenso. Etwa 100 Minuten später war ich komplett aus dem Häuschen! Der Film hat mich umgehauen. Ein bisschen Kannibalenhorror, ein bisschen Coming-of-Age, ein komplett und bemerkenswert zielgenauer Schlag in die Magengrube und ins Langzeitfilmgedächtnis.
Von den Schlagzeilen aus Toronto und den anschließenden „Skandalen“ habe ich Notiz genommen, aber versucht, sie weitestgehend zu ignorieren. Am Beispiel von "RAW" lässt sich auch wieder prächtig erkennen, wie skandalträchtige Stories von einigen Filmseiten aufbereitet werden, um von Gorehounds und sensationsgeilen Splatterkiddies angeklickt und missverstanden, anschließend illegal gestreamt und voller Enttäuschung in allen Foren verrissen zu werden. Klar, er wird auch im Normalfall nicht jedem zusagen, aber hier werden wieder Erwartungen geschürt, die Regisseurin Julia Ducournau nicht erfüllt, nicht erfüllen kann und nicht erfüllen muss, weil ihr so wunderschöner wie radikaler Film eine ganz andere, eine bessere Richtung einschlägt. Aber ja, er ist blutig, gemein, hart – und die Gefahr, dass einem übel wird, besteht zweifellos!
Am 26.10. erscheint der Film ungeschnitten auf DVD & Blu-ray im Vertrieb von Universal Pictures! Aufgrund der zeitnahen Veröffentlichung im Heimkino ist davon auszugehen, dass der Film wohl keine reguläre Kinoauswertung bekommen wird.
https://www.youtube.com/watch?v=fHLJ7TH4ybw