Kein deutscher Film der letzten 10 Jahre ist besser als Transit

01.02.2020 - 10:00 UhrVor 3 Jahren aktualisiert
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Kein deutscher Film hat uns in den letzten 10 Jahren so begeistert wie Transit mit Paula Beer und Franz Rogowski. Lest hier, warum ihr den Film unbedingt nachholen solltet.

Unter allen deutschen Filmen, die wir in Betracht gezogen haben, schaffte es Transit auf den höchsten Platz in der Liste der 100 besten Filme des Jahrzehnts. Die melancholische Literaturverfilmung über Flucht und Flüchtigkeit lockte in Deutschland nur knapp über 100.000 Zuschauer ins Kino. Seid also hiermit eingeladen, den zweitbesten Film der 2010er Jahre nachzuholen. So relevant und formvollendet wie Transit zeigte sich das deutsche Kino in den letzten 10 Jahren nämlich viel zu selten.

In Transit wird Literatur weniger verfilmt, als durchlebt

Georg (Franz Rogowski) streicht in Transit nach zwei Ausbrüchen aus Konzentrationslagern durch das Frankreich des Zweiten Weltkriegs. Noch gibt es das besetzte und das unbesetzte Land. Der Norden steht unter Kontrolle der Deutschen, das Regime im Süden kollaboriert mit ihnen.

Im Hafen von Marseille sammeln sich die Flüchtigen. Wer sich wegen seiner Herkunft oder seiner politischen Einstellung in Gefahr sieht, hofft auf ein Ticket für das letzte Schiff in die Freiheit, bevor die Nazis einmarschieren. Der ziellose Georg findet sich unter ihnen wieder, mit einem falschen Namen und einer echten Liebe.

Fakten zu Transit:

  • Ihr könnt Transit aktuell bei Netflix streamen, falls ihr ein Abo besitzt.
  • Die deutsch-französische Koproduktion lief 2018 im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Berlin.
  • Regisseur Christian Petzold (Phoenix) genießt besonders in der englischsprachigen Filmwelt ein hohes Ansehen. So gab es 2018 die bisher größte Retrospektive seines Werks beim renommierten Film Society of Lincoln Center in New York City.
Transit

Transit ist eine Literaturverfilmung, fühlt sich aber eher wie eine Literaturdurchlebung an. In dem Film wird die Adaption nicht vom historischen Detail her gedacht. Statt sich den Figuren über die Reproduktion einer Epoche anzunähern, wird die Geschichte auf ihre wesentlichen Elemente reduziert, sodass Gesichter, Hände, Haarsträhnen übrig bleiben. Es sind die Menschen, die sich auf der Flucht befinden, die, welche ein sicheres Heim gefunden haben, und jene, die weder bleiben noch davon ziehen wollen - so wie Franz Rogowskis Held.

Die Reduktion äußert sich in einem Kunstgriff, der den Film nicht automatisch besser macht, aber das Konzept brillant stützt. Gedreht wurde im Marseille der Gegenwart und das sieht man auch. Da läuft Rogowski mit einem alten Lederkoffer durch die Straßen, aber moderne Autos fahren vorbei, Graffiti spricht von den Wänden. Gerüchte über die sich nähernde deutsche Armee wirken dadurch nicht weniger angsteinflößend. Die Paranoia der Kriegsjahre legt sich über die sonnige Hafenstadt von heute.

Transit bannt die Atmosphäre des Romans auf die Leinwand

Die Handlung des Films von Autor und Regisseur Christian Petzold bleibt nah an jener der gleichnamigen Vorlage von Anna Seghers. Der Schriftstellerin gelang 1941 über Marseille die Flucht ins Exil. Ihre Erfahrungen von der Flucht und von jenen, die daran zugrunde gingen, flossen ein in die Begegnungen von Georg.

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So soll der junge Mann zunächst in Paris zwei Briefe an den Schriftsteller Weidel übergeben. Er findet jedoch heraus, dass sich Weidel das Leben genommen hat, ähnlich wie Seghers' jüdische Zeitgenossen Ernst Weiß und Walter Benjamin. Georg schlüpft hinein in die Identität des älteren Mannes und landet im Hafen von Marseille, wo Marie (Paula Beer) nach ihrem Ehemann Ausschau hält. Sie mag nicht fliehen, ohne mit ihm ins Reine zu kommen. Ein Schriftsteller ist es, der zuletzt in Paris lebte.

Als binde sie eine magnetische Anziehungskraft, finden sich Marie und Georg wiederholt in denselben Cafés wieder. Sie bleiben haften, wo die anderen alles geben würden für die Flucht. Eine zarte Schönheit entsteht durch diesen zufälligen Tanz der beiden. Eine windstille Insel im Sturm. Sie mischt sich in einen Film, der tragische Schicksale mit einer herzzerreißenden Flüchtigkeit streift.

Das Kommen und Gehen und Sterben wird in Seghers Roman als etwas furchtbar Alltägliches geschildert und Petzolds Adaption findet dafür eigene, traurige Szenen.

Franz Rogowski und Paula Beer strahlen in Transit

So ziehen Georg und Marie ihre Kreise durch die Stadt. Stefan Wills Musik begleitet die Schritte der beiden mit Klaviertasten und Gitarrenseiten, bis auch diese ihre eigenen Spuren zu verfolgen scheinen. In den Blicken von Rogowski und Beer kreuzen sich Sehnsucht und Angst. Es sind zwei hervorragende deutsche Schauspieler, die für das Gefühl der Gegenwärtigkeit in Transit mindestens ebenso wichtig sind wie die Inszenierung. Alldieweil wird Marseille mit dem wachsenden Druck von außen enger.

Transit

Nach Barbara (DDR) und Phoenix (Nachkriegszeit) ist Transit Christian Petzolds dritter Spielfilm hintereinander, der ein historisches Setting hat. Alle drei gehen mit der Darstellung von Vergangenheit anders um. In Transit bieten sich die auffälligsten Parallelen zur Gegenwart an.

Die Geschichte von Schutzsuchenden, die zwischen Bürokratie, Krieg und Vernichtung auf einem Fleckchen Europa um Rettung kämpfen, lässt sich schwerlich ohne einen Gedanken an die Gegenwart schauen.

Andererseits ist Transit in seiner Zeitlosigkeit sehr spezifisch. Die eine Fluchterfahrung lässt sich nicht einfach auf die andere übertragen. Das würde zu kurz greifen, sowohl was die Realität als auch diesen großartigen Film angeht.

Während viel zu große Teile des deutschen Film- und Fernsehgeschäfts die Vergangenheit mit mechanischem Desinteresse "bewältigen", ist in Transit nichts fertig, nichts hinter sich gebracht. Es ist da, jetzt, hier, und es fordert auf zum Sehen.

Habt ihr Transit schon gesehen? Und wenn nicht: Welcher ist euer liebster deutscher Film aus den letzten 10 Jahren?

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