Eine Nachricht geht um die Welt: George Clooney leidet an einer Nasennebenhöhlenentzündung! Fast gleichzeitig konnte man am Donnerstag auf dem Lido in Venedig die Herzen von PR- und Presse-Leuten brechen hören. Der Superstar musste alle Interview-Termine und die Pressekonferenz beim Filmfestival in Venedig absagen.
Dafür haben sich die verantwortlichen Viren und Bakterien einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, denn Clooney sollte in Venedig nicht irgendeinen Film (und zum Glück keine neue Regiearbeit) vorstellen. Sein neues Netflix-Projekt Jay Kelly wurde für Clooney quasi maßgeschneidert wie der eierschalenfarbene Anzug, den er auf dem Poster trägt. Jay Kelly ist zwar nicht George Clooney, aber fast. Der neue Film von Noah Baumbach (Marriage Story) wurde natürlich trotzdem gezeigt und als Hardcore-Emergency Room-Fan seit 1995 sehe ich mich verpflichtet, meine Eindrücke zu teilen.
In dem Netflix-Film stürzt George Clooney als Superstar in eine Existenzkrise
Jay Kelly ist selbstreferenzielle Angelegenheit, eröffnet wird der Film von einer berauschenden Reise durch ein Filmset. Da geht die Kamera in den voluminösen Farben des Großstadtsets auf und findet schließlich bei Jay Kelly (George Clooney) zur Ruhe. Der sitzt unter einer Laterne, hinter ihm eine nächtliche Skyline, Kunstblut auf dem Hemd und einen Sterbemonolog auf den Lippen.
Ein lautes "Cut!" zerschneidet die Illusion. Jay hätte gern noch einen Take und noch einen. Außerhalb des Scheinwerferlichts wartet der einsame Trailer. Jay Kelly ist ein großer Filmstar, der sich auf seine späten Tage in einer Existenzkrise befindet. Die eine Tochter (Grace Edwards) verlässt bald das Nest, die andere (Riley Keough) hat schon lange die Flucht ergriffen.
Der Trailer für Jay Kelly:
Jay fragt sich folgerichtig, was von ihm bleibt, wenn sich das Ensemble seines Lebens verflüchtigt. Das Drehbuch von Noah Baumbach und Emily Mortimer tut es ihm nach. Ein dramatisches Treffen mit einem alten Freund zwingt ihn zur Selbstfindung, also reist Jay seiner jüngsten Tochter spontan nach Italien hinterher, mit Manager, Make-up-Artist, Assistenten und dergleichen im Gepäck, die nach und nach auf der Strecke bleiben.
Jay Kelly lebt von den herausragenden Nebenfiguren
Noah Baumbach macht Jays Leben zur Bühne, in der er von einem Waggon voller Fans direkt in eine Erinnerung an seine Töchter oder einen Jahrzehnte zurückliegenden Filmdreh spazieren kann. Die Flashbacks sind elegant und träumerisch, sie erinnern an Achteinhalb, fallen im Gegensatz zu Fellinis Meisterwerk aber größtenteils dröge aus. Was zum einen an ihrer Hochglanz-Inszenierung liegt und zum anderen daran, dass Jay Kelly im Gegensatz zu einem neurotischen Fellini-Helden kein sonderlich interessanter Mensch ist.
Hier liegt der (fehlende) Kern des Films. Jay Kelly handelt von einem Mann ohne nennenswerte Persönlichkeit jenseits seiner Filmstar-Präsenz und beherbergt damit eine eigentlich gruselige Leere in seinem Zentrum. Vor der Erkundung dieser Leere schreckt das Drehbuch allerdings zurück. Kurz vor dem Abgrund zieht sich der Film stets auf einen von George Clooneys patentierten traurigen Dackelblicken zurück.
So kommt es, dass im Film namens Jay Kelly alle die Neugier auf sich ziehen außer Jay Kelly. Diese Nebenfiguren sind zahlreich und hervorragend besetzt. Sie reichen von Lars Eidinger als mental instabilem Rennradfahrer über Alba Rohrwacher als enthusiastische Festivalmitarbeiterin. Stacy Keach spielt Kellys verbitterten Vater und Laura Dern seine PR-Beraterin. Jay Kelly wartet in jedem Abteil mit skurrilen und liebevoll gezeichneten Figuren auf, die die Zugfahrt in die Toskana in ein vergnügliches Erlebnis verwandeln.
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Die beste Sequenz des Films gehört Billy Crudup
Es ist eine Reise voller Väter, die Familie, Karriere und das Alter ohne den umwerfenden Charme und Erfolg eines Jay Kelly oder George Clooney zu jonglieren versuchen. Der gewohnt berührende Adam Sandler spielt als Jays Manager Ron die prominenteste Rolle. Der eigentliche Star des Films ist trotzdem ein anderer.
Die beste Sequenz des Films gehört nämlich Billy Crudup (Watchmen - Die Wächter). Crudup hat sich im Schatten der Leading Men Hollywoods eine Karriere als Scene-Stealer und sichere Bank aufgebaut. In Jay Kelly spielt er Timothy, einen Jugendfreund, der Jay zu Beginn über den Weg läuft. Beide gehen etwas trinken. Die Fassaden scheinen klar definiert: Auf der einen Seite des Tischs sitzt der gönnerhafte Hollywood-Star, auf der anderen der Beinahe-Erfolg mit den bewundernden Augen.
Dann wird die Fassade wie auf Knopfdruck abgerissen, und Crudups Timothy zeigt ein neues Gesicht und eine meisterhafte Schauspiel-Lehrstunde. Jay Kelly enthält alle Bausteine für Clooneys Oscarkampagne, doch in den Nicht-Superstars findet Noah Baumbachs Film seine Stärken. In Venedig erntete Billy Crudups Auftritt Szenenapplaus, in Jay Kelly ist es der Startschuss für die Flucht nach Europa. Wenn nämlich "Cut!" gerufen wird, wartet der einsame Wohnwagen auf Jay und damit die Erinnerungen an alle, die der Star auf dem Weg zum Ruhm enttäuscht hat.
Wir haben Jay Kelly beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er seine Weltpremiere gefeiert hat. Am 5. Dezember startet der Film mit George Clooney bei Netflix.