Boris Karloff und Bela Lugosi personifizierten das Genre des klassischen Horrorfilms in den 30er und 40er Jahren wie kein anderes Schauspielerduo. Doch Mitte der 40er Jahre recycelten sie mehr und mehr ihre alten Horrorhits und das Publikum wurde ihrer allmählich überdrüssig. Ihr Ruhm verblasste zusehends, auch weil das Genre angesichts des realen Grauens des 2. Weltkrieges kaum noch Menschen in die Lichtspielhäuser zog. Verstärkt interessierte man sich für leichte Kost, sprich Unterhaltungsfilme, mit denen die Zuschauer der Wirklichkeit für ein oder zwei Stunden entfliehen konnten. Der Horrorfilm war bis auf wenige Ausnahmen Mitte der 40er Jahre in der Beutungslosigkeit angelangt.
10 Jahre nach Kriegsende verspürte man jedoch wieder die „Lust am Grauen“ auf der Leinwand, ja das Publikum lechzte förmlich nach Filmen, die Angst und Schrecken verbreiteten. Die englischen Hammer-Studios erkannten als eine der ersten Produktionsfirmen die Marktlücke und schufen mit relativ wenig Geld einige äußerst profitable Filme. Gestandene Stars konnte man sich freilich nicht leisten und deshalb griff man auf Darsteller zurück, die zuvor in Hollywoodfilmen kleine Nebenrollen bekleidet oder sich in TV-Filmen einen guten Ruf erarbeitet hatten. Zunächst deutete wenig darauf hin, dass Peter Wilton Cushing (1913-1994) der kommende Genrestar neben Christopher Lee werden sollte. Cushings Studium an der Guildhall School of Music and Drama in London ebnete den Weg für den talentierten Schauspieler mit der sonoren Stimme, der privat ein passionierter Maler und Karikaturist war. 1939 spielte er ausgerechnet unter der Regie von James Whale (Frankenstein, Der Unsichtbare) seine erste, kleine Kinorolle; ein Jahr später ergatterte er einen Part als Student im Laurel und Hardy-Komödienklassiker Wissen ist Macht.
In Laurence Oliviers preisgekrönter Shakespeare-Verfilmung Hamlet verkörperte Peter Cushing 1948 den Höfling Osric und unterstrich seine Fähigkeiten als exzellenter Schauspieler eindrucksvoll. Seine Rollen, so klein sie zunächst auch waren, blieben stets durch sein intensives, aber nie aufdringliches Spiel in Erinnerung. Grundlage für den späteren, endgültigen Durchbruch als Kinoschauspieler war vermutlich sein überzeugender Auftritt als Winston Smith in einer TV-Verfilmung von George Orwells Dystopie „1984“. Seine steigende Popularität und Präsenz im englischen TV erregte die Aufmerksamkeit der Hammer-Studios, die sich auf billige Abenteuer- und Science-Fiction-Filme verstanden. Nachdem sich die beiden Quatermass-Filme (Schock (1955), Feinde aus dem Nichts (1957)) zu überraschenden Zuschauererfolgen entwickelt hatten, wagte man sich nun an eine Neuverfilmung des Universal-Klassikers Frankenstein und fand in dem charismatischen Mimen Cushing jemanden, der der Figur des Baron Frankenstein schon optisch mit seinen ausgeprägten Wangenknochen und den hypnotischen blauen Augen, die Abgründe andeuteten, wenn nicht gar offenbarten, eine gewisse Aura verlieh.
Peter Cushing legte die Rolle des Baron Frankenstein vollkommen anders an als Colin Clive im Universal-Klassiker von 1931. Colin Clive präsentierte diesen als Vollblutwissenschaftler, der es zwar wagt, sich mit Gott gleichzusetzen, jedoch am Ende diese Anmaßung bereut und sich zu seiner Schuld bekennt. Cushings Frankenstein hingegen ist ein narzisstisch veranlagter, fast dandyhaft wirkender Snob und gleichzeitig ein beinahe einsiedlerischer Außenseiter, der zwar ebenfalls dem Wahn verfällt, Leben erschaffen zu wollen, aber auch keine moralischen Bedenken hegt, Mitwisser oder Menschen, die ihm lästig erscheinen, rücksichtslos ins Jenseits zu befördern. Dieser Baron Frankenstein ist eine Bestie mit einem Skalpell, ein skrupelloser Mörder im Arztkittel, der nicht wartet, bis das „Menschenmaterial“ auf natürliche Weise zur Verfügung steht. Am Ende bereut er seine Taten im Angesicht der bevorstehenden Hinrichtung nicht, sondern verteidigt sie im Sinne der Wissenschaft und ergießt sich in Selbstmitleid. Nichts an dieser Figur ist liebenswürdig. Er ist das wahre Monster, das im Gegensatz zu seinem „Geschöpf“ zwischen Gut und Böse unterscheiden kann und aus purer Berechnung tötet oder töten lässt.
An Cushings Seite in der Rolle des Monsters agierte ein gewisser Christopher Lee, der sich in Filmen wie Des Königs Admiral (1950) und Der rote Korsar (1952) einen guten Ruf als „Mann aus der zweiten oder dritten Reihe“ erspielt hatte und dank seiner Körpergröße wie geschaffen für die Rolle des Monsters war. Zu diesen Zeitpunkt ahnte noch niemand, dass die zwei in Frankensteins Fluch erstmals gemeinsam auftretenden Akteure eine neue Ära des Horrorfilms einläuten würden. Frankensteins Fluch wurde ein fulminanter Erfolg und das Duo Lee/Cushing förmlich über Nacht zu gefeierten Stars. 22 Filme (davon 8 Hammer-Produktionen) drehten sie in 25 Jahren und damit wesentlich mehr als Lugosi und Karloff. In rascher Abfolge entstanden heute zu Klassikern avancierte Genreperlen wie Dracula (1958), Der Hund von Baskerville (1958) oder Die Rache der Pharaonen (1959).
Die Rolle des oftmals zwielichtigen Arztes, Wissenschaftlers oder Adeligen schien Peter Cushing förmlich wie auf den Leib geschnitten. Kaum ein Kinoschauspieler war wohl so oft als Vertreter dieses Berufsstandes zu sehen wie Cushing. Immer mehr perfektionierte er die Rollen des distinguierten Aristokraten, denen er oftmals nur mit Nuancen in seinem Spiel eine gönnerhaft freundliche Attitüde oder aber abgrundtief böse Züge verlieh. Wie bei vielen anderen auf ein bestimmtes Genre festgelegten Schauspielern wusste auch Cushing um den Fluch und Segen seines Erfolgs als Horrorikone: „Wer will mich als Hamlet sehen? Sehr wenige. Aber Millionen wollen mich als Frankenstein sehen und nur aus diesem Grund mache ich das. Wenn ich Hamlet spielen würde, würden sie es einen Horrorfilm nennen.“
Vor allem seine Auftritte als Professor van Helsing (5 Auftritte) und als Baron Frankenstein (6 Filme) bleiben unvergessen. Niemand prägte die Figur des van Helsing stärker als er. Gestandene Schauspieler wie Laurence Olivier, Anthony Hopkins oder Christopher Plummer mussten sich an Cushings Interpretation messen lassen und zogen im Vergleich fast immer den Kürzeren. Der große Erfolg der Horrorfilme führte dazu, dass Peter Cushing in den 50er, 60er und 70er Jahren fast ausschließlich in „Hammer-Produktionen“ oder ähnlich gelagerten Filmen der Konkurrenzfirma Amicus mitwirkte. Sein enormes Arbeitspensum steigerte er noch durch zusätzliche Engagements in TV-Serien wie Sherlock Holmes oder Doctor Who.
Ende der 60er Jahre schwand das Interesse der Kinozuschauer an den pittoresk anmutenden Horrorfilmen allmählich. Die Nacht der lebenden Toten (1968) und Der Exorzist (1973) setzten in Sachen Horror neue Maßstäbe, während die Hammer-Studios nur noch alten Wein in neuen Schläuchen produzierten, indem sie ihre Filme mit immer mehr Sex und Gewalt anreicherten. 1971, die Zeit des klassischen Horrorfilms neigte sich ihrem endgültigen Ende entgegen, war für Cushing das vermutlich schwerste Jahr seines Lebens. Am Set von Das Grab der blutigen Mumie erfuhr er vom Tode seiner Frau Helen, mit der Cushing 28 Jahre verheiratet war. Er brach die Dreharbeiten ab und schrieb später in seiner Autobiographie, dass er in der Nacht nach ihrem Tode mit dem Gedanken gespielt hätte, sich das Leben zu nehmen. Im 1972 entstandenen Film Dracula jagt Mini-Mädchen befindet sich auf van Helsings Schreibtisch übrigens ein Foto von Cushings Frau Helen. Eine letzte Ehrerweisung.
Nach dem Aus der legendären Hammer-Studios Mitte der 70er Jahre hielt sich Cushing meist mit billigen und rückblickend unbedeutenden Machwerken über Wasser, die eines Schauspielers seiner Klasse unwürdig waren. Als Glückgriff erwies sich, dass ein Mann namens George Lucas sich bei Peter Cushing erkundigte, ob er sich vorstellen könne, in seinem nächsten Film Krieg der Sterne die Rolle des Obi-Wan Kenobi zu spielen. Cushing willigte ein, erhielt letztlich aber die Rolle des Grand Moff Tarkin. Der Rest ist Geschichte.
1982 trat Cushing ein letztes Mal mit den beiden anderen großen Horrorlegenden Christopher Lee und Vincent Price in Das Haus der langen Schatten vor die Kamera. Zwei Jahre später folgte die Spionagekomödie Top Secret und 1986 sein letzter Film Der Biggels Effekt. 1989 erhielt Cushing den Titel „Officer of the Order of the British Empire“ für seine außergewöhnlichen schauspielerischen Leistungen. Wie Christopher Lee, sein bester Freund, meinte, zu spät und eine zu unbedeutende Auszeichnung für dessen Lebensleistung. Am 11. August 1994 starb der umgängliche, beim Publikum äußerst beliebte und von Kollegen geschätzte Mime im Alter von 81 Jahren an Prostatakrebs.
Peter Cushing wusste, dass er als „Hamlet“ immer nur einer von vielen sein würde. Als Baron Frankenstein und Professor van Helsing wird er aber als einzigartig in Erinnerung bleiben. Nächstes Jahr wäre Cushing 100 Jahre alt geworden.
Vorschau: Nächstes Mal wandelt die Speakers’ Corner fort von den großen Kinopfaden und hin in kleinformatige, aber nicht weniger beeindruckende Gefilde.
Dieser Text stammt von unserem User Filmkenner77. Wenn ihr die Moviepilot Speakers’ Corner auch nutzen möchtet, dann werft zuerst einen kurzen Blick auf die Regeln und schickt anschließend euren Text an ines[@]moviepilot.de