Roma - Der Netflix-Film von Alfonso Cuarón gehört ins Kino

30.08.2018 - 19:15 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
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Nach dem Weltraum aus Gravity entführt uns Alfonso Cuarón in seinem neuen Film Roma in seine Kindheit und in seinen bisher besten Film. In Venedig feierte das für Netflix produzierte Werk Premiere.

Was macht Alfonso Cuarón als Regisseur aus? Guillermo del Toro hat seine monströsen Außenseiter, Alejandro González Iñárritu sein Martyrium (manchmal der Figuren, manchmal der Zuschauer, oft beide). Was aber macht Cuarón aus, der die Trias mexikanischer Regisseure im Umkreis Hollywoods vervollständigt? Während del Toro dieses Jahr beim Festival Venedig als Jury-Präsident über die Vergabe des Goldenen Löwen entscheidet, geht Landsmann Cuarón mit Roma in den Wettbewerb, der in zweifacher Hinsicht zum Aufhorchen lädt. Cuarón hat nach dem Erfolg des IMAX-Spektakels Gravity entschieden, bei seinem neuen Film mit dem Streaming-Dienst Netflix zu arbeiten. Außerdem kündigte der Regisseur Roma als seinen persönlichsten Film an. Dafür kehrte er nach Mexiko zurück, wo ihm mit dem Coming-of-Age-Film Y Tu Mama Tambien vor 17 Jahren der zweite, echte Durchbruch gelungen war. Erinnerungen an seine eigene Jugend verarbeitet Cuarón in Roma, die in der mexikanischen Geschichte mit Autoritarismus und Studentenprotesten zusammenfiel. Es ist sein bisher bester Film.

Nach Gravity entführt Roma in die Kindheit Alfonso Cuaróns

Zurück zu der Frage vom Anfang. Die Plansequenzen stehen im bzw. fliegen durch den Raum, egal ob in einem Roadmovie wie Y Tu Mama Tambien oder dem Weltraum von Gravity. Über die Jahre und Versuche, in Hollywood anzukommen, hat Cuarón in Zusammenarbeit mit Kameramann Emmanuel Lubezki eine technische Virtuosität herausgearbeitet, die zum Markenzeichen geworden ist. Sie sticht in einem konfektionierten Franchise-Produkt wie Harry Potter und der Gefangene von Askaban ebenso hervor wie in der Dystopie Children of Men oder Gravity. Dessen, nun ja, Anziehungskraft wird mindestens zur Hälfte aus der Erwartung einer technischen Meisterleistung gewonnen. Oder sagen wir zwei Drittel. Trotzdem fällt es schwer, auszumachen, was den Regisseur von Little Princess darüber hinaus mit dem von Gravity verbindet.
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Nach der mütterlichen Trauerbewältigung im Weltraum, also der völligen Entschlackung auf zwei Figuren und die Leere, die sie zu verschlucken droht, quillt in Roma jede Einstellung über. Es sind Kinder, Krankenschwestern, Studenten, Kinobesucher. Frisch bezogene Betten, Hunde, Hundehaufen (so viele Hundehaufen!), Kuscheltiere, Bücher, Pflanzen, gekochte Eier. Hausmädchen Cleo (Yalitza Aparicio) ist bei einer Mittelschichtsfamilie in Mexiko-Stadt angestellt, um diesen Details nachzukommen. Die Kinder werden geweckt, das Essen angerichtet, die Kinder in die Schule verabschiedet, Betten gemacht. Auf dem Dach wäscht Cleo unter dem gleißend hellgrauen Himmel die Wäsche. In einem dieser langen, geduldigen Schwenks, wie sie Roma dominieren werden, erspähen wir die vielen anderen Hausmädchen anderer Familien auf anderen Dächern, die andere Wäsche waschen. Jeden Morgen wird die Einfahrt mit Wasser übergossen und wenn am Abend der Vater mit seiner breiten Macker-Karre vorsichtig im Schneckentempo hineinfährt, hat der waschechte Good Boy von einem Hund wieder überall seine Notdurft hinterlassen. Es muss ja am nächsten Morgen was zu tun geben.

Roma verwebt private Erinnerungen mit der Geschichte Mexikos

Idylle wäre das falsche Wort. Cleo ist nicht Teil der Familie. Ihre Mixteken-Herkunft grenzt sie von der Mittelschicht im Viertel La Roma ab, von den blonden Kindern, mit denen sie Abends vor dem Fernseher kauert und die sie liebt wie ihre eigenen. Neben der Couch sitzen geht, gemeinsam lachen geht, aber nur eine im Raum wird dem Befehl folgen, Tee zu holen.

Eine kleine Welt für sich beobachtet die (diesmal von Cuarón selbst beaufsichtigte) Kamera in jenem Haus im besser gestellten Herzen von Mexikos Hauptstadt. Sie wird Risse bekommen. Erst verschwindet der Ehemann, dann wird Cleo schwanger. Die Männer in Roma steigern sich in zunächst lachhafte Insignien der Maskulinität hinein, die sich als Symptom für tiefer liegende Krankheiten herausstellen. Der Doktor hat sein unpraktisches Auto, bald wird er anderweitig seine Virilität ausleben. Der Vater von Cleos Kind, ein junger Mann, zeigt ihr nach der Liebesnacht nackt seine Kendo-Künste. Er wedelt und schwingt und stößt mit dem Bambusstab, als stünde er allein gegen 100 Mann und nicht vor einer schönen Frau. So nebenbei wird später erwähnt, dass ein Amerikaner ihn und andere in der Kampfkunst ausbildet. Der dreckige Krieg gegen linke Oppositionelle, der in den 60er und 70er Jahren in Mexiko Massaker, Folter und Verschwinden von Tausenden begründet, wird mit Details wie diesem in den Alltag von Cleo und der Familie eingewoben. Bisweilen tritt er erschütternd in den Vordergrund.

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Was Roma mit Harry Potter und Children of Men gemeinsam hat

Bei aller liebevoll ehrlichen Beobachtung dieser Familie bündelt Roma die diffusen Kernelemente von Cuaróns Filmen. Dazu zählt, wie er in fremde Welten nicht nur entführt, sondern ihr Aroma einfängt, ihre Oberflächen tastbar macht. Dass Harry Potter und der Gefangene von Askaban so etwas wie der Styleguide der Reihe wurde - von der Atmosphäre bis hin zu den Kostümen - ist kein Zufall. Magisch, der realen Welt entrückt, waren bereits Little Princess und Große Erwartungen aus den 90ern, und in Y Tu Mama Tambien wurde die verschmelzende und auseinander driftende Innenwelt der beiden jungen Helden erkundet. Auch hier diente Mexikos Wandel als Hintergrund. Gerade wenn man sich in diesem Gefüge orientieren kann, und das ist ein weiteres Kernelement Cuaróns, wird es destabilisiert. Was gibt einem zugleich mehr Sicherheit und Unsicherheit über die Unversehrtheit des Raums als eine Sequenz ohne Schnitt? Im puren kinetischen Terror von Children of Men und dem schwerelosen Sog, der Sandra Bullock von ihrem Schiffswrack wegzieht, äußert sich das am dramatischsten. Beide Filme arbeiten in ihrer Anlage als technische Herausforderungen auf diesen Effekt hin.

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In Roma finden sich zwei, drei Sequenzen, die zum Besten gehören, was Alfonso Cuarón jemals gedreht hat, eine davon eine Fahrt ohne Schnitt, bei der man die Fingernägel in den Sitz krallen möchte, nur um sie gleich danach im Dank zu erheben. Ich wollte, dass es endlich endet und nie aufhört. Ein anderer Moment in einem Kino entwickelt eine verheerende Gewissheit aus einer zurückgelassenen Lederjacke, während Die große Sause das Publikum in Gelächter versetzt. Eine durch und durch vernichtende Louis de Funès-Szene! Das hätte ich von diesem Festival nun wirklich nicht erwartet.

Beisammen gehalten wird Roma von Cleo, die vielleicht nicht zaubern oder in den Weltraum fliegen kann, die aber als Zentrum des Films und auch der Familie firmiert, zu der sie nicht gehört. Ihr sind die geruhsamen Schwenks, nach links und rechts und wieder zurück, Untertan. Sie lenkt unseren Blick in diesem Hohelied auf die Frauen aus Cuaróns Kindertagen, während die tiefen Straßen von Mexiko-Stadt uns dazu versuchen, wegzublicken, durch die Bilder zu schweifen und zu schlendern. Jeder sollte Roma auf der größtmöglichen Leinwand sehen, da gehört der neue Film von Alfonso Cuarón hin. Da das dank des Finanzierungsweges dieses aufwendigen Schwarz-Weiß-Dramas nicht jedem möglich sein wird, hier ein Kompromiss: Jeder sollte Roma sehen.

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