Nun steht er da, der Mensch. Befreit von den Fesseln der Natur, aufgestiegen in neue Sphären des Daseins. Aber es ist ein waghalsiger Gang, droht er doch zu allen Seiten hin in den Abgrund zu stürzen.
Die Transformation des Menschen in die heutige Position bezeichnet wohl das Kernelement der Moderne. Er hat sich freigesetzt, ist unabhängig geworden von der Natur, von traditionellen (agrarischen) Verhältnissen, empor gekommen aus der Einheitsmasse. Domestizierung, Individualisierung, auch Rationalisierung, Differenzierung - sie gehen alle Hand in Hand und beschleunigen sich gegenseitig. Diese Konstellation, diese Entwicklung birgt viele Vorteile, Errungenschaften - nicht zuletzt ist Moderne immer noch ein überwiegend positiv belegter Begriff - aber eben auch eine Menge an Nachteilen und Gefahren. Ich möchte mich hier vor allem auf einen Aspekt konzentrieren, bei dem sich wohl Individualisierung und Domestizierung treffen. Denn vielleicht mag der Mensch die Natur auf den ersten Blick bezwungen haben, sie eingefangen und besänftigt haben (während er sie zerstört) - auch wenn es immer wieder Naturkatastrophen zu geben scheint, die dem eigentlich widersprechen - aber er macht sich durch seine Schaffung einer künstlichen Welt immer mehr abhängig von seinen Technologien, von Computern - ohne Internet und Strom, was würde der Mensch tun? Des Weiteren befindet sich der postindustrielle, moderne Mensch zulaufend in einer Identitätskrise. Denn "früher", früher, da musste man sich keine Gedanken darüber machen, "wer man eigentlich ist". Alles war vorherbestimmt, niemand hat es angezweifelt, man hat es gelebt. Ganz schön pauschalisiert hier. Aber heutzutage, mit diversen Berufsfeldern gefolgt aus der Arbeitsteilung, der wachsenden Abhängigkeit in der globalisierten Welt, da kommt jeder mal an den Punkt, an dem er sich fragt: was möchte ich mit meinem Leben machen? Jede Generation in der letzten Zeit mag ein Lied davon singen. Befinden wir uns denn bereits in einer "Postmoderne"?
Blade Runner springt in die Bresche. Er vereint die Frage nach der Identität mit der Gefahr der Abhängigkeit von Technologien. Wir lernen die Replikanten kennen, in Philip K. Dicks Roman Do Androids Dream of Electric Sheep? (1968) (ein sehr tragisches, sehr, sehr zu empfehlendes Werk!), welcher als Literaturvorlage dient, heißen sie Androids, meist Andys. Geschöpfe, die vom Menschen geschaffen wurden, um den Mensch abzuschaffen. Aber natürlich nicht gewollt: denn wie in jeder Zukunftsvision beginnt es wahrscheinlich ganz euphorisch - neue Technologien ermöglichen eine Erleichterung für den Menschen. Bis diese sich gegen sie wendet. Vor allem humanoide Kreaturen wie die Replikanten aus Ridley Scotts Film dienen gerne als Projektionsfläche der Verschmelzung von Träumen und Ängsten der Menschheit zugleich. (Auch ein interessanter, wenn auch leider erheblich weniger guter Beitrag zum Thema: A.I. - Künstliche Intelligenz.) Sie nehmen den Menschen die Arbeit ab, aber sie sind auch so menschenähnlich, dass bald keine Unterscheidung mehr vorgenommen werden kann - oder doch? Ist die Eule bei Tyrell Corp. künstlich? Natürlich ist sie das!
Das Bewusstsein verändert sich. Sind Replikanten die besseren Menschen? Nur ein weiterer Schritt in der Evolution zur schließlichen Perfektion des Daseins? Vielleicht, deshalb ist deren Lebenszeit auch auf fünf Jahre begrenzt. Damit sie keine Emotionen entwickeln können - sie dienen ja bloß der Arbeit auf den Kolonien. Ein Wink für die zunehmend rationalisierte Zukunft? Es dringt in das Bewusstsein ein. Wenn doch mal einer auf die Erde gelangt, wird er in den "Ruhestand geschickt" (retired).
Der Mensch mag es, Gott zu spielen. Er hat die Natur bezwungen, jetzt möchte er auch das Leben besiegen. Freigesetzt aus allen Schikanen, schwingt er sich zur Perfektionierung des Seins auf. Die leuchtenden, bewundernden Augen Tyrells beim Anblick von Batty, dem Anführer der auf der Erde gestrandeten Replikanten, zeigen all den Enthusiasmus, den der Mensch für technologische Innovationen aufbringt. Aber nicht nur das, sondern genauer: für die Schaffung künstlichen Lebens. Ob es Roboter, Klone oder Androiden/Replikanten sind: gleichauf mit der Reise zu den Sternen in die Unendlichkeit des Weltraums haben wir hier den zweiten großen Traum der Menschheit. Das Leben bezwingen, die letzten Überbleibsel der irdischen Fesseln lösen und das wahr machen, was in den Filmen immer nur Science-Fiction war. Blade Runner manifestiert die ureigene Essenz des Sci-Fi-Films und wird damit zu einem der größten seiner eigenen Zunft. Im Moloch des fiktiven L.A.s im Jahr 2019 hat sich das Bewusstsein schon so weit gewandelt, dass es zur Tagesordnung gehört. Wer ist mehr Mensch? Der Mensch oder der Replikant? Batty wird zum Messias hochstilisiert, sein abschließender Monolog sprengt die Grenzen des zuvor für möglich gehaltenen. Er möchte mehr Leben! Aber wer denn nicht? Und wer lebt denn überhaupt?
Wenn ich meine alten Schulkenntnisse der Biologie hervorkrame, sind wir Menschen so vielen anderen Tieren nahe, dass es wie reiner Zufall erscheint, dass wir nun hier sitzen, wo wir sitzen. Z-U-F-A-L-L - ja/nein? Wer mag das schon beantworten. Sind die Replikanten nun die besseren Menschen? Was unterscheidet sie denn von uns? Deckard verliebt sich in Rachel, die selbst nicht wusste, was oder wer sie war. Als sie aufgeklärt wird durch den Blade Runner, fragt man sich schon, wer hier überhaupt über Emotionen verfügt von den beiden. Denn letztlich geht es doch darum: wer sind wir denn überhaupt?
Man kann die Motive des Films gar nicht zur Genüge aufschlüsseln, dafür sind sie zu tief, zu breit, zu existenziell. Blade Runner ist so ungemein visionär, wenn man sein Releasedatum betrachtet, wenn man auf das der Vorlage zurückgeht noch um so einiges mehr. Ich möchte in dieser Sphäre auch gar nicht von Moral und Ethik, von Normen und Werten anfangen - das würde viel zu weit führen hier - von der Art, ob man denn Leben kreieren darf, wie man dieses behandeln soll. Ist der Mensch bereit für die Schaffung künstlichen Lebens in seiner bereits geschaffenen künstlichen (Um)welt? Jeder soll mal ein wenig selbst-reflektieren, ob er glaubt, dass wir dazu bereit sind. Möglicherweise sollten wir uns selbst erst einmal Halt geben, uns darauf konzentrieren, unsere eigene Identität zu finden und (ganz vielleicht!) uns nicht wegen anderer Ansichten auf die Mütze geben. Nur ein vager Vorschlag. Die Menschheit befindet sich in einer sich zuspitzenden Identitätskrise - doch wir können den Weg daraus finden, wenn wir es endlich einsehen und begreifen, was passiert.
Über die uns bevorstehende Abhängigkeit von den ganzen Technologien, die noch nur der Erleichterung dienen (erste Gefahren und negative Folgen spüren wir jedoch bereits), kann man auch mal eine Weile nachdenken. Sie steht nämlich schon in der Tür, die bereits geöffnet wurde. Wir haben das Klopfen nur vielleicht nicht gehört.
„I've seen things you people wouldn't believe. [...] All those moments will be lost in time... like tears in
rain... Time to die.“
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