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Hier bin ich Maschine, hier darf ich's sein

01.04.2015 - 12:00 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
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Rapid Eye Movies, Grimalkin
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Es ist mal wieder soweit, ein neuer Monat beginnt, und auch euer liebstes MP-Schreiberteam von "blog me if you can" steht erneut in den Startlöchern. Und diesmal wird es besonders spacig (ich liebe dieses Wort), denn es geht um Zukunftstechnologien!

Der Begriff "Mensch" bezeichnet nicht die Fähigkeit zu intelligentem, bewusstem oder reflektiertem oder differenziertem Denken. Es ist die Bezeichnung einer Sammlung biologischer Attribute; Aussehen sozusagen. Man stelle sich zum Beispiel vor, noch eine weitere Spezies sollte sich durch die Evolution zu solchem Denken weiterentwickeln. Sie wäre mit dem Menschen gleichzustellen, das sollte niemand, der logisch und friedvoll denkt, abstreiten, und doch wäre sie kein Mensch. Dies ist einer der Gründe, weshalb ich eine Handvoll anderer Begriffe verwende, um das zu beschreiben, was andere leichtfertig als Mensch bezeichnen, ohne Mensch zu meinen. Es sind typische Gedanken, die ich mir mache, um die Fantasie anzuregen, und, weil ich sie schlicht faszinierend finde. Man nehme eine Gesellschaft her, ein soziales Konstrukt, ändere einen wesentlichen Faktor, und spinne den Gedanken so lange weiter, bis man ein anderes fertiges, vollends funktionierendes soziales Konstrukt erschaffen hat. Hierbei zeigt sich auch, wie steif und unvorbereitet unsere Welt auf grundlegende Veränderungen wäre, und wie konträr Moral und unsere Alteingesessenheit doch sind. Wer in der Lage ist, in dieser nun eigens gesponnenen Welt auch noch frei von Vorurteilen zu sein, der ist in der Tat gänzlich unbefangen. Da das Wesentliche nun geklärt ist: man stelle sich eine Welt vor, in denen Wesen mit artifiziellem Körper und fortgeschrittener Intelligenz mitsamt dem Menschen als eine gemeinsame Gesellschaft leben.

Ich habe mich, seit ich besagten Animefilm kenne, immer schon gefragt, inwiefern Ghost in the Shell als Dystopie gelten kann - das tut der Film nämlich - wenn doch die darin gezeigte soziale Struktur unserer um Längen voraus ist; wenn man hier jedwede Gleichberechtigung bereits erreicht hat, während man in unserer realen Gegenwart noch darauf zusteuert. Man kann gar sagen, dass GitS sogar noch weiter geht, als den bloßen Idealzustand zu zeigen. Er führt sogar noch eine weitere, aus unserem heutigen Verständnis fiktionale - und vor 20 Jahren im Anbruch des Computerzeitalters noch fiktionalere - Gesellschaftsgruppe ein und integriert sie perfekt als vollwertiges Mitglied in unsere Zivilisation, und das auf wirtschaftlicher, wie auf sozialer Ebene: die Cyborgs. Personen, deren Körper teilweise oder zur Gänze künstlich hergestellt wurden. Die Seele, der "Ghost", wird erst nach dem Guss in die Hülle, die "Shell", eingepflanzt, um auf diese Weise echtes Bewusstsein und Intelligenz zu erlangen. Es besteht kein Zweifel, dass es sich hierbei um lebende Wesen handelt, wenngleich jegliches organisches Gewebe oftmals fehlt. Aber das Erstaunliche an der Welt von GitS ist nicht direkt diese neue Technologie, sondern, wie mit dieser umgegangen wird. Denn indem ich die Cyborgs als "Technologie" bezeichne, bin ich weitaus weniger wertschätzend als die Personen im Film.

Genau genommen sind die Einzigen, die sich mit ihrer Existenz kritisch auseinandersetzen, manche Cyborgs selbst. Oftmals bleibt es für den Zuschauer wahnsinnig lange ungeklärt, wer denn nun letztlich einer dieser Maschinen ist. Denn der Bevölkerung in GitS ist es wohl selbst ziemlich egal, es interessiert sie kaum. Unterschiede werden ohnehin keine gemacht. Wissentlich befinden sich die Cyborgs in Spitzenpositionen der Politik, wie auch in dreckigen kleinen Slums, genauso wie auch die Menschen. Der einzige Unterschied beläuft sich wohl auf die Methode der Zerstörung. Ein Mensch ist eher physisch verwundbar, der Tod seines biologischen Körpers tötet ihn, ein Cyborg muss mental umgebracht werden. Von daher sind Hacker auch sehr gefürchtet. Das Zermürbenste muss wohl sein, zu wissen, physisch so stark verbessert zu sein, dass man an Kraft und Robustheit quasi nicht zu überbieten ist, jedoch für einige Computerexperten psychisch einsehbar und kontrollierbar zu sein. Aber das ist Gott sei Dank überaus schwer und allerstrengstens verboten.

GitS ist in meinen Augen weit von einer Dystopie entfernt. Betrachtet man diese Welt genauer, und ihre Gegebenheiten als die Realität, so ist er in erster Linie ein klassischer Krimi. Nur, dass eben kein Mörder gesucht wird, kein Juwelendieb oder Vergewaltiger, sondern ein Hacker, der sich in die Ghosts der Cyborgs einhackt und sie manipuliert. Zugegeben, gegen Ende wird er recht abstrakt, deshalb längst noch keine negative Zukunftsentwicklung. Wie für das Genre üblich, ist GitS an einzelnen Stellen ziemlich brutal, und grundsätzlich von einem düsteren und urbanen Setting geprägt. Und dennoch ist die Gewalt keine Konsequenz der Weiterentwicklung. Es ist dieselbe Art der Gewalt, die auch heute in unserer gegenwärtigen Realität vorherrscht, nur eben durch die alternative Technologie etwas verfremdet. Eine Dystopie weist sich als solche aus, wenn es durch die Entwicklung der Gesellschaft zu negativen Folgen kommt: sprich weniger Vertrauen, mehr Gewalt, Einschränkung des Individuums, schlechtere Lebensumstände, Krisen, Armut, keine Meinungsfreiheit, Skrupellosigkeit, und dergleichen. All dies ist in GitS definitiv nicht der Fall. Es GIBT technischen Fortschritt und es GIBT Gewalt, aber es gibt keine einzige Verbindung dieser zwei Umstände. Abgesehen davon, dass die Brutalität in der Welt von GitS im Grunde nicht schlimmer ist als die, die auf unserer Welt tagtäglich passiert, lediglich von der Regie hochstilisiert. Es werden gleich viele Leute in den gleichen Situationen getötet wie bei uns. Das Blut spritzt nur so stark, weil es ein Film ist. Nicht, weil sich die Gesellschaft schlecht entwickelt hat.

Die Protagonistin in GitS ist Major Motoko Kusanagi, ein Cyborg, der als Polizistin für den für Cyberkriminalität zuständigen Sektor 9 arbeitet. Sie scheint neben ihrem Widersacher, dem Antagonisten Puppet Master, die einzige Figur im gesamten Gefüge zu sein, die sich mit der Frage auseinandersetzt, ob sie nichts weiter als ein Netz von Daten ist, und gar kein richtiges Lebewesen. Ob ihr Empfinden auch wirklich Empfinden ist, oder nur eine künstliche Projektion desselben. Ob sie Gefühle verspürt oder nur programmiert ist. Und ob sie eine richtige Identität besitzt. Wissen wir, ob unsere subjektive Wahrnehmung richtig ist? Gibt es denn überhaupt ein "richtig"? Ein Schizophrener nimmt ebenfalls Personen und Ereignisse greifbar und unmittelbar wahr, und sie sind trotzdem nicht real. Außer für ihn. Und vielleicht gibt es auch kein Moviepilot, und der Film Ghost in the Shell ist nur eine Projektion meiner innersten Gedanken auf meine Sinne. Motoko fragt sich, ob sie lebt. Ob sie denkt. Tatsache ist, man kann Maschinen so programmieren, dass sie lebendig erscheinen. Ohne es zu sein. Ist Motoko lebendig? Vielleicht sagt sie nur, was ihr einprogrammiert wurde? Oder sie lebt doch, und nur ihr Körper ist künstlich. Und die Frage ist: wie würde ich mich als Cyborg fühlen? Wie würdest du dich fühlen?

Aber das Schöne an der Sache ist: nur für Motoko ist all das von Bedeutung. Und niemand, absolut niemand, würde in GitS auch nur eine Sekunde auf die Idee kommen, zwischen ihr und einem Menschen zu differenzieren, auch, wenn die betreffende Person weiß, was von beiden sie ist. Mit diesen philosophischen Gedankenkomplexen steht sie relativ alleine dar, und sie hat nie zu befürchten, dass sie irgendjemand jemals anders behandeln würde, nur wegen dem Metall- und Kunststoffanteil ihres Körpers. Selbst, wenn dieser an die 100% ausmacht. Sie darf sein, wer sie ist, und muss sich nicht nur nicht dafür rechtfertigen, sondern kann auch leben, erleben und denken, ohne, dass jemand einen Gedanken verschwendet, wer oder was das ist. Und das ist die ultimative Utopie.


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