Berlinale 2016 - Colin Firth entdeckt den Genius Jude Law

17.02.2016 - 08:50 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
GeniusWild Bunch
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Colin Firth entdeckt ein Genie, das aussieht wie Jude Law, und Cynthia Nixon entführt uns in die Geisteswelt der Dichterin Emily Dickinson an diesem sechsten Berlinale-Tag.

Genius von Michael Grandage ist die Art Film, die es auch geben muss. Bei einem Festival wie der Berlinale laufen solche Filme wohl primär, um Stars in die kalte deutsche Hauptstadt zu locken, was bei der 2016er Ausgabe gelungen ist. Colin Firth und Jude Law waren da, Laura Linney ebenfalls. Nicole Kidman schaffte es leider nicht auf den Roten Teppich vor dem Berlinale Palast. Ihr australischer Landsmann Guy Pearce schon. Genius hat zumindest mir deutlich mehr zugesagt als der vergleichbare Mr. Holmes aus dem letzten Jahr und ausgehend von diesen absolut repräsentativen Beispielen taufe ich dieses Subgenre einfach mal den Laura-Linney-spielt-leider-nicht-die-Hauptrolle-Film. Den Goldenen Bären wird das Kino-Regiedebüt von Michael Grandage wahrscheinlich nicht einkassieren und das geht in Ordnung. Es ist die Art Film, die einem an einem verregneten Sonntagnachmittag in eine andere Epoche mitnimmt, ohne einen mit den widersprüchlichen Details zu belasten. Sie trägt einen behutsam durch emotionale Aufs und Abs, die beruhigend lange im Voraus angekündigt werden. Ein bildungsbürgerlicher Hintergrund wird in diesen Filmen mit Verweisen auf Literatur oder Geschichte belohnt, aber nicht erprobt. Selbst die größten Fehltritte gehen in geschmackvollen Inszenierungen auf, transgressive Momente ergeben sich höchstens aus Unfällen. Das alles klingt abwertend. Filme wie Genius muss es aber auch geben.

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Colin Firth spielt darin den amerikanischen Lektor Maxwell Perkins. Da sich Firths Gesichtszüge mit steigendem Alter von zweiflerischer Distanz zur Melancholie hinzuwenden scheinen, sieht Perkins stets so aus, als schleife er den gesammelten Kummer seiner Autoren mit sich herum. Diese tragen große Namen. Perkins editierte F. Scott Fitzgeralds Der große Gatsby und Ernest Hemingways In einem andern Land. Sein schwierigster Autor aber war wohl Thomas Wolfe (Jude Law als Matthew McConaughey auf Speed als Thomas Wolfe). Nachdem Wolfe 1929 ein Tausende Seiten starkes Manuskript vorlegt, entwickelt sich eine freundschaftliche Arbeitsbeziehung zwischen Lektor und Schriftsteller. Genius stellt nun im Titel indirekt die Frage, wer von den beiden das Genie hinter den literarischen Meisterwerken Schau heimwärts, Engel! und Zeit und Fluss ist. Der Mann, der Kisten voller Seiten ins Büro eines Verlages karrte oder der, der sie in ein druckbares Format brachte? Seine Antwort findet das Drehbuch von John Logan in den Szenen der Arbeit. Wenn Perkins und Wolfe über Absätze, Satzteile und Wörter debattieren, wenn der Lektor seinen Autor zur kürzeren Alternative geleitet, anstatt sie ihm aufzuzwingen, wenn man Literatur förmlich aus ihrer Quelle fließen sieht. Genius ordnet diese Szenen mit vermehrter Spielzeit leider dem persönlichen Drama unter. Wolfes Geliebte Aline Bernstein (Nicole Kidman) will lieber eine professionelle Dreiecksgeschichte erzählen und Laura Linney macht Sachen, die Laura Linney in undankbaren Nebenrollen eben macht. Dass Logan Ernest Hemingway (Dominic West) und F. Scott Fitzgerald (Guy Pearce) als personifizierte Forshadower (Ist das ein Wort? Jetzt schon.) späterer Handlungswendungen missbraucht, gehört zu den Ausrutschern eines alles in allem ziemlich okayen Films. In dessen Welt scheint jeder irgendwas im Theater anzustellen, jeder Künstler sein zu wollen. "Human beings aren't fiction", heißt es deshalb an einer Stelle. Der überzeugendste Mensch in Genius ist passenderweise der Lektor.

Das tolle - und schreckliche - an der Berlinale sind ihre in der Stadt verstreuten Spielstätten. In Cannes fristen Kritiker einen Großteil ihrer Zeit in einem riesigen Messekomplex. Da will man bei jedem Spaziergang zu den Kinos der Semaine de la Critique oder Quinzaine des Réalisateurs wie Andy Dufresne auf die Knie fallen und dem Himmel für die erkämpfte Freiheit danken. Die Berlinale hingegen bietet den idealen Crashkurs für die öffentlichen Verkehrsmittel. Wie kommst du am schnellsten vom Delphi in Charlottenburg zum Zeughauskino nahe der Museumsinsel und wo greifst du zwischendurch eine Asia-Box ab? Reicht der 30-Minuten-Puffer, um vom Haus der Berliner Festspiele in Wilmersdorf zur U-Bahn zu sprinten und auf der Karl-Marx-Allee vor dem Kino International wieder Tageslicht zu sehen? Die Anfahrtszeit allein hat so manchen sorgfältig zusammengestellten Berlinale-Plan ins Chaos gestürzt. Dafür bringt das Publikumsfestival gerade bei den Sälen außerhalb des Potsdamer Platzes einen ganz individuellen Charme mit. Was ich mit dieser langen Einführung ohne Hauptteil sagen will: While the Women Are Sleeping von Wayne Wang war der erste Film der Berlinale 2016, bei dem ich rund 100 Minuten lang weggenickt bin und das Kino 9 im Cubix am Alexanderplatz trägt die Schuld. Ästhetisch gesehen fügt das Ambiente dem Besuch nichts hinzu, außer flexible Sitze, die fatalerweise zum Zurücklehnen einladen. Die gibt es im Zoopalast ebenfalls. Dessen Hochglanz-Ambiente mit Kuschelteppich - so stelle ich mir das Privatkino von Hugh Hefner vor - gemahnt einen zumindest daran, dass gerade irgend etwas von Bedeutung seinen Anfang nimmt. Die Kinosessel im Zoopalast sind schlicht verdächtig bequem.

Welche Kinosessel Emily Dickinson in ihrem fiktiven Heimkino vorgezogen hätte, sei eurer Fantasie überlassen. Der 1830 geborenen Dichterin aus Massachusetts widmet sich Terence Davies (The Deep Blue Sea) in seinem neuen Film A Quiet Passion. Eine Sichtung genügt eigentlich nicht, um in Worte zu fassen, wie Davies die Todes-Angst von Emily Dickinson (Cynthia Nixon), ihre zunehmende Isolation, aber auch ihre intellektuelle Wachsamkeit in Bilder, Töne und Worte fasst. Am liebsten würde ich den Film gleich nochmal sehen und ausschließlich den Kameraeinsatz mit seinen trägen Schwenks über Dickinsons engsten Kreis, die Two-Shots mit ihren Freundinnen und Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen bei hitzigeren Diskussionen katalogisieren. Wie genau konstruieren Davies, Kameramann Florian Hoffmeister und Schnittmeisterin Pia Di Ciaula jene familiäre Intimität, die für Dickinson zu Schutzwall und verheerendem Einfalltor von Schicksalsschlägen gerät? Dann noch eine Sichtung mit dem Augenmerk auf der Verwebung von Dickinsons Poesie in den Alltag von Frauen, deren ungeschöpfte Fähigkeiten zwischen Altar und Sterbebett systematisch erstickt werden sollen. Und schließlich ein weiterer Durchlauf nur für die leuchtenden Augen der beiden Emilys Emma Bell und Cynthia Nixon. Filme wie A Quiet Passion sollte es viel häufiger geben.

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