Todd Haynes' Wonderstruck ist ein kleines Wunder von einem Film

18.05.2017 - 16:00 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Wonderstruck
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Todd Haynes kehrt nach Carol zurück an die Croisette und zeigt mit dem fantastisch rauschhaften Wonderstruck, was im Kinder- und Jugendfilm möglich ist - wenn man es nur will.

Wenn der erste Festivalhöhepunkt die orgasmischen Laute in einem Hinterhof war, dann kann der erste Tag in Cannes filmisch nicht sonderlich aufregend gewesen sein. Ich zweifle noch, ob da irgendwo unter meinem Fenster ein lustvoller Klimax erreicht wurde oder doch nur eine Möwe qualvoll verendet ist. Wie dem auch sei, der erste Tag beim Festival Cannes bot in filmischer Hinsicht das, was man durchwachsen nennt, wenn man ein Optimist ist. Tag 2 überwältigte hingegen in den Morgenstunden, und dieses Urteil bezieht sich aufs Kino, nicht die Leistung meiner Nachbarn. Wonderstruck reiht sich in eine kleine Welle von aufwendigen und doch eigenartigen Jugendabenteuern aus den letzten Jahren ein, etwa Hugo Cabret, Elliot, der Drache, Sieben Minuten nach Mitternacht oder BFG - Big Friendly Giant. Der größte Spezialeffekt im neuen Film von Todd Haynes ist allerdings kein freundliches Ungetüm, sondern die Stadt New York. Haynes war zuletzt mit dem intimen Liebesdrama Carol in Cannes, in dem die Sehnsucht zweier Frauen als Energiequelle ganzer Kaufhäuser herhalten könnte. Im wundervollen Wonderstruck wendet er sich kindlichen Themen und Gefühlswelten zu, die denen von Carol näher liegen, als zunächst gedacht.

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Eigentlich sind es zwei New Yorks, die in Wonderstruck mit aufgerissenen Augen bestaunt werden, wie sonst nur Baumkronensalat futternde Brachiosauren. Im schwarz-weißen Jahr 1927 erheben sich die ersten Wolkenkratzer so wahnwitzig, als hätte jemand eine modernistische Lithografie auf einen Architektenschreibtisch geschmuggelt. Das taube Mädchen Rose (Millicent Simmonds) kommt hier mit der Fähre aus New Jersey an und findet das Manhattan ihrer Pappmaschee-Träume. Die türmen sich daheim, wo sie ihrem strengen Vater (James Urbaniak) ausbüchst, um den Stummfilmstar Lillian Mayhew (Julianne Moore als Lillian Gish-Verschnitt) zu suchen. Alles drängt in die unerreichbare Höhe in diesem New York kurz vor der Wirtschaftskrise, von den Kartontürmchen in der Drogerie bis zu den Filmstars der ausgehenden Stummfilmzeit. Alle außer Rose, die von einem Gegenüber auf Augenhöhe träumt.

Dieses Gegenüber macht sich im Jahr 1977 auf von Minnesota in den Big Apple. Ben (Oakes Fegley) sucht nach dem Tod seiner Mutter den unbekannten Vater und selbst ein Blitzschlag, der ihn ertauben lässt, kann den 12-Jährigen von seiner Reise nicht abhalten. Sein New York hat den Höhenrausch hinter sich, ist die gelebte Stadt und weniger die vereinfachte, von der Kunst gespeiste, Vorstellung aus der Nachwelt. An entscheidender Stelle wallt nicht von ungefähr Eumir Deodatos Arrangement von Also sprach Zarathustra auf, das schon in Willkommen Mr. Chance zu hören war, als Chance (Peter Sellers) zum ersten Mal seinen Garten verlässt und in die desolate Großstadt heraus tritt. Diesmal begleitet das Stück Schritte durch einen pulsierenden, in Schöpfung und Verfall befindlichen Organismus.

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Das Herz Manhattans bildet in Wonderstruck das Museum für Naturgeschichte, das die Unermesslichkeit der Welt in Schaukästen eingefangen hat. Hier kreuzen sich die Wege von Rose und Ben, wenn nicht zeitlich, so doch räumlich. Ben und sein neuer Freund Jamie (Jaden Michael) spielen Fangen in diesem altehrwürdigen Gemäuer, huschen von Diorama zu Diorama. Ihre Silhouetten tauchen ein in die wundersame Welt auf kleinstem Raum. Die drei Kinder aus unterschiedlichen Zeiten folgen in der handwerklich eindrucksvollen Sequenz unwissentlich den Schritten der anderen. Sie tauschen Plätze, Blicke und bewundern. Vom Wunder getroffen, kommen die Außenseiter zusammen. Carter Burwells zu Superlativen anregender Score lässt die Stummfilmklänge nach und nach in der Gegenwart von 1977 verschwimmen. Es gibt keinen Bösewicht in Wonderstruck, keine Heldengeschichte, nichts, dass es zu überwältigen gibt, nur die Öffnung, das Finden. Darin gleicht Wonderstruck Martin Scorseses Pariser Filmmärchen Hugo Cabret, der ebenfalls auf einem Roman von Brian Selznick basiert. Umso präziser müssen die Gestaltungsmittel ineinander greifen, um aus wenigen Begegnungen und Gesten eine emotionale Stoßkraft zu erzeugen, welche der technischen Versiertheit (und Wonderstruck ist ein wunderschöner Film, keine Frage) einen Puls verpassen. In den Anfangsszenen gelingt das auf Grund der sich abwechselnden Zeitlinien nicht immer, zu abrupt wirken die Übergänge. Burwells Score nimmt in der Formierung der Geschichte jedoch eine entscheidende Rolle ein.

Habe ich schon erwähnt, dass Wonderstruck sich über weite Strecken als Stummfilm entfaltet? Im Jahr 1927 natürlich, wo die taube Rose in der zum Aussterben verdammten Kunstform eine einmalige Identifikationsfläche findet. Aber auch 1977, wo sich Ben mit Jamie über Zettel verständigen muss. Verwegenheit braucht es sicherlich, um in einem Jugendfilm erst und ohne große Erklärung zwei Zeitebenen zu verweben und dann einen beträchtlichen Teil der Laufzeit auf konventionelle Dialoge zu verzichten. Wonderstruck ist rein filmisch ein Abenteuer für sich, wie es heute wohl höchstens mit Unterstützung eines Streaming-Mäzens wie Amazon entstehen kann. "Sowas wird heute eigentlich nicht mehr gedreht", mochte man nach Amazons Dschungelabenteuer Die versunkene Stadt Z ausrufen. Ein kleines Filmwunder wie Wonderstruck war ohnehin nie die Norm.

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