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Der Geist des Gewissens, die Hand der Schuld

01.08.2015 - 12:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
"Du sollst nur da stehen, damit ich dich ansehen kann, bis ich einschlafe."
WOWOW
"Du sollst nur da stehen, damit ich dich ansehen kann, bis ich einschlafe."
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Auch wenn die Überwachung im Jahr 2015 durchaus omnipräsent ist und man sich sicher sein kann, dass alle peinlichen Rechtschreibfelher, die man im Netz so produziert irgendwo für ungefähr immer gespeichert sind, gelingt es den Menschen irgendwie relativ unbeschwert durch das alltägliche Leben zu schreiten. Wahrscheinlich des Komforts wegen, es ist nämlich wahrlich unangenehm, über die NSA, Snowden und die Vorratsdatenspeicherung nachzudenken. Noch schlimmer wird es dann, wenn man tatsächlich weiß, was für Programme im Hintergrund laufen, während man ganz unschuldig Google nutzt oder bei Facebook sein weltbewegendes Frühstück postet. In diesem Text zu dem Thema „Watching You“ soll es aber nicht die Paranoia vor dem Staatsapparat gehen, wie in Francis Ford Coppolas „Der Dialog“, sondern um die Mini-Serie bzw. den langen Film „Sühne“ von Kiyoshi Kurosawa.

In „Sühne“ verliert eine Mutter ihre Tochter, als diese tot in einer Schulsporthalle gefunden wird. Kurz vorher wurde sie von einem für den Zuschauer nicht sichtbaren Mann dorthin gelockt, ihre vier Freundinnen hat sie auf dem Spielplatz hinter sich gelassen. Und um diese vier Mädchen und die Mutter der Toten geht es in der 270-minütigen Geschichte. Die vier Mädchen nämlich beteuern sich nicht erinnern zu können, wie der Täter aussah. Nichts. Ihr Gedächtnis ist wie leergefegt, was sicherlich dem Schock zuzurechnen ist - schließlich haben sie ihre Freundin selbst gefunden. Die Mutter allerdings kann eben dies nicht glauben, wie kann man denn ein Gesicht innerhalb weniger Stunden vergessen? Noch dazu eines, das den Mädchen von vornherein unwohl erschien? Sie holt die vier Mädchen (Sae, Maki, Akiko und Luka sind ihre Namen) zu sich und verspricht ihnen, dass ihr Leben jämmerlich sein wird, wenn sie ihr nicht helfen, oder ihr eine annehmbare Entschuldigung entgegenbrächten. Dass für diese Entschuldigung ein Opfer her muss und kein Knicks und eine lang gedehnte Mitleidsbekundung reichen, macht die Mutter allein mit ihrem Ton deutlich. Danach erzählt der Film in vier Kapiteln die Leben der vier Freundinnen fünfzehn Jahre später und hier kommt die Verbindung zur grundlegenden Thematik.

Jedes einzelne der Mädchen wird nämlich von ihrer Vergangenheit eingeholt und trifft noch einmal auf die Mutter. Und sie alle leiden unter dem, was damals passiert ist - jeder auf seine eigene Weise. Es scheint, als würde der Geist des Mädchens sie alle beobachten und ihr Leben beeinflussen. Auf die eine oder andere Art. Am stärksten scheint dieses seltsame unsichtbare Wesen jedoch auf der Mutter zu lasten, die ihre Tochter verloren hat und daraufhin all ihren Druck auf ihre Freundinnen überbringen wollte - und scheitert. Sie denkt, dass sie auf die Weise vor der Konfrontation mit dem gewaltsamen Tod ihrer Tochter davonlaufen kann, nur um am Ende wieder allein mit ihrem Schicksal zu sein. Allein und noch hilfloser als zuvor, weil sie alle Brücken, die sie dachte überquert zu haben, gnadenlos niederbrennt und sich in eine Sackgasse manövriert, aus der sie sich nicht mehr herauswinden kann. Aber ist das eine glückliche oder eine tragische Fügung? Spendet es Kraft oder wird sie von dieser Unausweichlichkeit entzogen? Regisseur Kiyoshi Kurosawa geht mit dieser Thematik, die wegen der Geister durchaus bei selbst ernannten Realisten auf Ablehnung stoßen kann, auf eine beeindruckende Art und Weise um; er erklärt die Phänomene nämlich nicht näher. Entweder sie sind da oder eben nicht. Solange es für den einen Charakter echt ist, ist es das auch für den Film an sich.

Dieser Geist des toten Mädchens, das ihre Freundinnen und Mutter zu beobachten scheint, hat mir sehr zu denken gegeben. Die eingangs erwähnte Feststellung, dass eben jene Beobachtung uns alle mittlerweile betrifft, soll hier aufgegriffen werden. Als medienkritische Metapher funktioniert „Sühne“ nicht und so war es auch nicht gedacht, aber es hat mir einmal mehr die aktuelle Situation in der wir Leben bewusst gemacht. Dass man wenig machen kann, ohne registriert oder zurückverfolgt zu werden, ist ein Fakt. Dass man darüber gar nicht nachdenken mag, ist ein Fakt. Dass man es aber sollte, ist auch ein Fakt, denn der Mensch ist doch als natürliches Wesen darauf gepolt, einen Vorteil aus einer jeden Situation zu ziehen. Filme werden produziert, um Geld für noch mehr Filme einzuspielen. Ich verschwende hier eure Zeit, um Aufmerksamkeit zu kriegen. Also wäre es doch nur logisch, dass das Wissen um die Überwachung uns beeinflussen würde. Jeder Mensch, der einigermaßen bei Sinnen ist, würde sich „vor Publikum“ keinen Eklat leisten, indem er etwas Unpopuläres sagt oder macht. Aber vor allem im Internet scheint es wenige Menschen, die einigermaßen bei Sinnen sind, zu geben. Das wird schon daran deutlich, dass sie meinen, das Internet von der Realität trennen zu müssen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Das hier ist kein politischer Text, der die staatliche über generelle Überwachung legitimieren möchte. Das hier ist ein sozial-orientierter Text. Anstatt über die Überwachung zu meckern, die wohl nicht wirklich wieder einfach so verschwinden wird, dafür ist es zu hilfreich in vielen Belangen, sollte man sich eher fragen: Muss ich mir denn Sorgen machen, hab ich etwas Verwerfliches getan? Ein Gedanke, zu dem man allerdings fähig sein muss, denn es ist unter anderem ein Gedanke, vor dem die Mutter in „Sühne“ davonrennt. Sie projiziert ihre Schuldvorwürfe auf die anderen Mädchen, sie überträgt ihre Probleme und Sorgen auf sie, um sich von ihnen zu entfernen, anstatt den Kontakt zu suchen und gegenseitige Hilfe zu leisten. Vereint eine übergeordnete Präsenz nicht auch auf irgendeine Weise? Sei es der liebe Gott, das Gewissen oder der Gedanke an eine Bezugsperson? Ich für meinen Teil, ich glaube schon. Menschen sterben, aber unbedeutend werden sie nie.

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Hier gibt es die Texte meiner Partner in Crime:

chita91: https://www.moviepilot.de/news/prestige-und-die-frage-are-you-watching-closely-154367

Grimalkin: https://www.moviepilot.de/news/rotoskopische-realitaten-in-a-scanner-darkly-153942

alex023: https://www.moviepilot.de/news/beobachtet-euch-mal-selbst-153848

Laudania: https://www.moviepilot.de/news/unwirkliche-realitaten-die-matrix-hat-dich-152557

Absurda: https://www.moviepilot.de/news/want-to-be-like-me-or-want-to-be-me-154294

*frenzy_punk<3: https://www.moviepilot.de/news/big-brother-is-watching-you--4-154465

Martin Canine: https://www.moviepilot.de/news/eine-kritische-analyse-des-heterosexuellen-mannlichen-voyeurismus-in-filmen-am-beispiel-von-daisy-duke-oder-schwenk-die-kurven-jessica-simpson-154068

Stefan Ishii: https://www.moviepilot.de/news/big-brother-is-watching-you--2-153857


Das Thema für den 1. September
lautet "Es war einmal...".

Eine Reise in die Vergangenheit, ein Blick auf historische Ereignisse
und ferne Zeiten und Kulturen oder einfach nur alte Dinge in
einem Zustand, als noch kein Staub angesetzt hatte.

Wer noch nicht zur famiglia da blog gehört, der melde sich bei den beiden Profis
chita91 oder Grimalkin. Die können und wissen alles, was es zu können und wissen gibt.



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