Zwei Gerichtsmediziner stehen über einer Leiche und unterhalten sich während ihrer Autopsie über Netflix. 30 Prozent aller Inhalte des Streamers sind nur noch True-Crime-Unterhaltung, behauptet der eine. Die Leute lechzen offenbar nach der Aufarbeitung grausiger, wahrer Kriminalfälle. So ein "Gewalt-Algorithmus" ist wirklich eine Schande – ereifern sich die zwei Leichenbeschauer, während sie den toten Körper zwischen sich aufschneiden.
Die erste Szene aus Plastic Guns gibt gut die Marschrichtung der Schwarzen Komödie vor. Die fast wöchentliche Aufarbeitung alter und ungelöster Kriminalfälle bei Netflix und Co. nervt schon länger gewaltig. Doch kann ein über die Stränge schlagender Kommentar auf das Phänomen von True-Crime-Filmen, -Serien und -Dokus dem Abhilfe schaffen?
Plastic Guns nimmt Netflix' Lieblings-Genre aufs Korn
Bei Netflix sucht das Publikum Antworten nach den Beweggründen hinter schrecklichen Verbrechen. Plastic Guns hingegen sucht im augenzwinkernden Exploitation-Gewand den Grund für das Übermaß an wahren Kriminal-Formaten – und knöpft sich dafür unterschiedliche Parteien vor, die zur True-Crime-Misere beitragen.
Neben den mit verächtlicher Hingabe spekulierenden Gerichtsmedizinern gehören dazu zwei Frauen, die als Hobby-Ermittlerinnen den flüchtigen Mörder Paul Bernardin selbst schnappen wollen. Der unbekannte Familien-Killer ist der Dreh- und Angelpunkt des französischen Films von Jean-Christophe Meurisse. Lea (Delphine Baril) und Christine (Charlotte Laemmel) glauben, mehr Spuren als die Polizei finden zu können, und schrecken für ihren erhofften Ermittlungsdurchbruch vor Einbrüchen nicht zurück.
Zudem rundet der polizeiliche Ermittler Zavatta (Anthony Paliotti), dem ein Chuck-Norris-ähnlicher Ruf für die Täterfindung vorauseilt, das Ensemble ab. Der fährt allerdings mit seiner Familie gerade in den Urlaub und kann deshalb am Flughafen nur im Vorbeigehen einen Mann melden, der Ähnlichkeit mit dem gesuchten Versprecher hat: Michel Uzès (Gaëtan Peau), wie dieser angebliche Amateur-Country-Tänzer sich nennt, wird daraufhin in Kopenhagen in Gewahrsam genommen, wo keiner seinen Unschuldsbeteuerungen glaubt. Schließlich ist die Vorstellung davon, einen echten Kriminellen geschnappt zu haben, so viel spannender als die Alternative.
Hinter dem Netflix-Spott: Wer sind die wahren Schuldigen im True-Crime-Wahn?
Die Krimikomödie Plastic Guns hat ohne Frage ein paar wirklich skurril-lustige Szenen zu bieten, wenn sie über echte und falsche Killer sowie tatsächlich Gesetzeshüter:innen und Fake-Ermittler:innen sinniert. Die Verständigungsschwierigkeiten zwischen der französischen Polizei und den dänischen Kolleg:innen per Videocall, wenn sie die Auslieferung "ihres Killers" fordern, sind zum Beispiel ein Highlight:
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Aber trotz der amüsanten Abwege, auf die Pastic Guns uns mitnimmt, strauchelt der Film immer wieder, seine Erzählstränge zusammenzuhalten. Während Netflix' parodierte True-Crime-Formate zumindest eine geradlinige Argumentation erschaffen, franst diese Komödie zunehmend aus und klärt die zentrale Frage nach dem Familienmörder, den alle suchen, zu früh. Und trotz spitzfindiger Genre-Satire lässt sich Spannung eben doch nicht allein mit Humor ersetzen.
In gewisser Weise passt die Eskalation der Figuren, die sich in Indizienbeweise hineinsteigern und ihre Weltsicht nach eigenen Wünschen zurechtbiegen, zu dem ausuferndem True-Crime-Phänomen, das nicht nur auf Netflix beschränkt ist. Spätestens, wenn Pastic Guns sich an das Herausschneiden von Augen von Verdächtigen macht, strapaziert selbst die schwarze Komödie ihre Glaubwürdigkeit mit einer zunehmend konfusen Geschichtsführung. Ganz abgesehen von dem Ende, das sich fast wie eine nachgeschobene Entschuldigung anfühlt, die der bis dahin so radikal spottende Film gar nicht nötig gehabt hätte.
Kann man also wirklich auf der Verspottung eines Netflix-Phänomens einen ganzen Film errichten? Im Fall von Plastic Guns funktioniert es nur bedingt. Den Streaming-Algorithmus mit Hang zum True-Crime wird das kaum verändern. Weil letztendlich wir die sensationslüsternen Täter:innen sind, die immer wieder einschalten, um sich an – spottender und ernsthafter
–
Verbrechensbesessenheit zu ergötzen.
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Wie und wo ihr den Netflix-Spott von Plastic Guns sehen könnt
Der Vorverkauf hat bereits begonnen: Plastic Guns läuft im September 2024 auf dem Fantasy Filmfest: am Dienstag, dem 10. September 2024, zunächst in Berlin; anschließend am 17.9. in München, Nürnberg, Stuttgart und Hamburg sowie am 21.9. in Frankfurt und Köln.
Einen weiteren Start im Kino, Heimkino oder Stream hat Plastic Guns derzeit noch nicht. Netflix kann sich den Film also durchaus noch schnappen, um das True-Crime-Programm um eine Parodie zu ergänzen.